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Editorial

Ein neuer „Völkerfrühling“

13/03/2011

Ein neuer „Völkerfrühling“

Editorial der „Estrategia Internacional“ Nr. 27, 23. Februar 2011

Das Jahr 2011 begann mit einer Welle von Aufständen und Massenmobilisierungen der Arbeiter und Unterdrückten. Obgleich das Epizentrum dieser Massenbewegung in der arabischen und muslimischen Welt liegt, wo verschiedene revolutionäre Prozesse laufen, haben auch Auswirkungen in anderen Gegenden der Welt begonnen, wobei diese Aktionen weniger tiefgehend und weniger radikal ausfallen. Die Welle der Kämpfe von den Generalstreiks in Guadalupe 2009, den Mobilisierungen und Streiks in Griechenland 2010 bis zu dem Widerstand der Arbeiter und Gymnasialschüler gegen die Reform des Rentensystems von Sarkozy in Frankreich scheinen vor dem Hintergrund der schon drei Jahre andauernden Weltwirtschaftskrise den Anfang eines aufsteigenden Zyklus des Klassenkampfes anzukündigen.

Der Wirbelwind von Massenaktionen in der arabisch-muslimischen Welt

Ein Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse zeigt den atemberaubenden Kurs, der durch das Auftreten der Massen in der arabischen Welt eingeschlagen wurde.

Tunesien, 17. Dezember 2010: Ein junger arbeitsloser Akademiker, der sich seinen Lebensunterhalt mit dem Straßenverkauf von Gemüse verdiente, entschloss sich aus Protest gegen die Misere, zu der das diktatorische Regime Ben Alis ihn und die Mehrheit der Jugend, der Arbeiter und Arbeitslosen verdammt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dieses tragische Ereignis war der Auslöser für einen Aufstand der Arbeiter und der verarmten Massen, der am 14. Januar 2011 zum Sturz von Ben Ali führte. Dieser blieb dank der Unterstützung Frankreichs, der ehemaligen Kolonialmacht und wichtigstem Handelspartner Tunesiens, sowie dank der Unterstützung der USA, die Ben Alis Dienste im „Krieg gegen den Terror“ gebührend zollte, 14 Jahre lang in der Regierung. Der Sturz Ben Alis hat die Lage jedoch nicht beruhigt: am Sonntag, den 20. Februar gingen Tausende von Tunesiern wieder auf die Straße um für den Sturz der von Mohammed Ganouchi angeführten „Ìbergangsregierung“ und für den Aufruf einer verfassungsgebenden Versammlung zu demonstrieren. Der Prozess in Tunesien hat eine revolutionäre Welle losgetreten, die sich wie ein Lauffeuer durch Nordafrika, die arabische Halbinsel und die muslimische Welt ausgebreitet hat. Die Straßen Jemens, Jordaniens, Bahreins, Marokkos und Algeriens sind voller junger Menschen, Arbeiter, Frauen, der armen Stadtbevölkerung und Arbeitslosen, die das Ende der despotischen Regimes –Diktatoren oder Monarchen – fordern. Diese haben durch eine jahrzehntelang mit eiserner Hand betriebene brutalste Unterdrückung die Bedingungen geschaffen, um den Massen Privatisierungen, soziale Kürzungen und Prekarisierung aufzuzwingen und so die lokalen Eliten und die großen imperialistischen Multis zu begünstigen.

Ägypten, 25. Januar 2011: Millionen Menschen, überwiegend die arbeitslose oder nur Hungerlöhne verdienende Jugend, besetzen die Straßen Kairos, Alexandrias und weiteren Städten des Landes. Sie fordern den Rücktritt Husni Mubaraks, einer der wichtigsten Verbündeten der USA und Israels, an der Macht seit 1981. Der Diktator setzt sich zur Wehr. Die Demonstranten bleiben auf dem Tahrir-Platz. Die Armee bewahrt sich selbst, indem sie nicht gegen die Demonstranten vorgeht, gleichzeitig verhandelt sie mit Mubarak und der Regierung Obamas wie der Ausweg aus der Diktatur erfolgen sollte, um den Massen nicht ihren Sieg zu gönnen. Die Demonstrationen schwellen an, trotz des Drucks der Massen versucht Mubarak an der Macht zu bleiben und die Armee geht nicht gegen die Demonstranten vor. Diese Situation hält sich, bis eine großartige Streikwelle die wichtigsten Sektoren der Wirtschaft des Landes lahm legt, was den Sturz Mubaraks vom 11. Februar beschleunigt. Die Armee, die ein zentraler Bestandteil des Regimes gewesen war und als wichtigste Säule des Staates unversehrt bleibt, übernimmt die Regierungsgeschäfte. Während wichtige Teile der Mittelklassen sich mit den angekündigten Versprechungen von demokratischen Freiheiten des nun regierenden Militärrats zu begnügen scheinen, dehnen die Arbeiter jedoch - ermutigt vom erreichten Sieg, ihre Streiks noch weiter aus. Somit trotzen sie der Militärregierung, die versucht Streiks und Gewerkschaftsversammlungen zu verbieten. Sie haben den Abgang des Diktators bereits erreicht und wollen nun höhere löhne, bessere Lebensbedingungen, gewerkschaftliche Freiheit und fordern vor allem, dass alle von Mubarak ernannten korrupten Firmenchefs und -verwalter verschwinden. Noch ist der Ausgang offen: es besteht die Möglichkeit, dass die Armee mit der Unterstützung des Imperialismus und der einheimischen Bourgeoisie in ihren politischen Varianten, erfolgreich den „Ìbergang“ meistert und somit eine „reaktionäre demokratische“ Stabilität erreicht. Auf der anderen Seite besteht aber auch die Möglichkeit, dass durch die Konfrontation mit der Arbeiterklasse wieder breite Teile der Massen für den Kampf angelockt werden. Eine weitere Möglichkeit wäre auch, dass der Militärrat, der die Ausarbeitung einer Verfassung ohne jegliche Teilnahme des Volkes an sich gerissen hat, letztendlich den Massen nur so wenige Zugeständnisse macht, dass sie wieder auf die Straßen gedrängt werden.
Jemen, 28. Januar: Zehntausende Menschen fordern in Sanaa, der Hauptstadt des Landes, den Rücktritt von Ali Abdullah Saleh, an der Macht seit 33 Jahren. Dies ist die erste von einer ganzen Reine von Mobilisierungen, die trotz der harten Repression des Regimes stattfinden, da die treibenden Kräfte gegen die jemenitische Diktatur sehr weit reichen. Saleh war ab 1978 Präsident Nordjemens und ist seit der kapitalistischen Widervereinigung des Landes im Jahre 1990 Präsident der Republik Jemen. Dieser Verbündete der USA und der saudischen Monarchie führt seit vielen Jahren einen schmutzigen Krieg gegen die schiitische Bevölkerung des Nordens und gegen eine separatistische Bewegung im Süden des Landes. Er führt das ärmste Land der arabischen Welt an, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung in Elend lebt und die Arbeitslosigkeit bei 35 Prozent liegt. Dennoch ist dieses kleine Land von strategischer Bedeutung für die USA, die dort verdeckte militärische Operationen gegen angebliche Al-Qaeda-Kämpfer führt. Gleichzeitig versuchen die USA einen Regierungswechsel mit oppositionellen Anführern zu organisieren, deren Interessen sich mit denen der USA decken.

Libyen, 15. Februar: In Bengasi, einer Stadt im Osten des Landes, führt die Repression gegen die Antiregierungs-Proteste zu einem lokalen Aufstand gegen das Gaddafi-Regime. Die Sicherheitskräfte haben sich auf die Seite der Protestierenden geschlagen, die sich nicht nur der Waffen, sondern auch der Kontrolle über die Stadt bemächtigen. Doch als die Massenmobilisierungen die Hauptstadt Tripolis, den Machtsitz Gaddafis erreichen, wartet eine brutale Antwort auf sie. Ganze Stadtviertel wurden aus der Luft bombardiert sowie Demonstranten beschossen. In nur wenigen Tagen hat die Repression mehrere Hunderte, wenn nicht Tausende, von Toten und Verschwundenen gefordert. Der Oberst Gaddafi zeigt sich zwar als Verteidiger der „Dritten Welt“, ist jedoch zum Neoliberalismus konvertiert und Freund von Bush, Blair und Berlusconi geworden. Er klammert sich nun seit 1969 fest an die Macht und sorgt durch die saftigen Erdölerträge für sich selbst und seinen Familienclan. Nun hat er sich entschieden mittels Repression und Kugelhagel an der Macht zu bleiben. Der hohe Grad an repressiver Gewalt des Regimes und die Radikalität des Aufstandes machen den libyschen Prozess sicherlich zu einem der schärfsten in der Region, der schon hohe Elementen von staatlicher Zersetzung und Perspektiven eines Bürgerkrieges aufzeigt. Der Ausgang bleibt völlig offen, da sich auch chaotische Situationen mit direkten Auseinandersetzungen zwischen den verschieden Stämmen des Landes, das der 12. größte Erdölexporteur der Welt ist, ergeben können. Die imperialistischen Mächte, die in der Vergangenheit gute Geschäfte mit Gaddafi gemacht haben, sind nun gegen den Diktator –mit der Ausnahme Italiens, durch die starken gemeinsamen Interessen mit ihrer ehemaligen Kolonie. Die Imperialisten erwarten nun nach dem Sturz Gaddafis neue Perspektiven, die ihre Interessen waren, immer vorausgesetzt dass sich ein völliges Chaos noch die Spaltung des Landes vermeiden lässt. Sollte es doch dazu kommen, wird dies als Vorwand genutzt werden, um NATO-Kräfte einzusetzen. Die ägyptischen Militärs, die ihren eigenen „Ìbergang“ bewerkstelligen müssen, sorgen sich jetzt, dass der Bruch innerhalb der libyschen Armee zu einer unkontrollierbaren Situation in ganz Nordafrika führen könnte. Deshalb würden sie Gaddafi weiterhin unterstützen. Durch den Aufstand in Libyen wurden jene Regierungen, die sich in die Verteidigung des Diktators Gaddafis (wie Ortega in Nicaragua) oder auch durch ihr beharrliches Schweigen angesichts der ausgeübten Massaker (wie Chavez in Venezuela) eingereiht hatten, entblößt. Selbst Fidel Castro hat das Vorgehen Gaddafis gerechtfertigt, da er eine angebliche „Opposition zum Imperialismus“ darstelle.

Bahrein, 16. Februar: Die Sicherheitskräfte eröffnen das Feuer gegen Demonstranten, zwei davon werden getötet, die inspiriert von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten, bessere Lebensbedingungen fordern. Dieses kleine Land, mit einem schiitischen Bevölkerungsanteil von 70 Prozent und einem sunnitischen von 30 Prozent, wird seit dem 18. Jahrhundert von einer sunnitischen monarchischen Dynastie regiert, die gute Verbindungen zu Saudi Arabien pflegt. Der Motor der Rebellion ist die Ausgrenzung der schiitischen Mehrheit –die den größten Teil der Arbeiterklasse des Landes ausmacht- aus den politischen Machtstrukturen des Landes. Obwohl das demographische und politische Gewicht Bahreins gering ist, kann diese Krise unvorhersehbare Folgen für den Imperialismus und die saudische Monarchie haben. Bahrein ist das Hauptquartier der 5. US-Flotte und deshalb für die militärischen Operationen der Besatzungskräfte im Irak unersetzlich. Außerdem können die Ereignisse in Bahrein zu einer Inspirationsquelle für die schiitische Bevölkerung Saudi Arabiens werden, die sich in den Erdölregionen im Osten des Landes konzentriert.

In nur einigen Wochen scheinen diese explosionsartigen Massenbewegungen Nordafrikas und der arabischen Halbinsel, die durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise (vor allem durch den Anstieg der Lebensmittelpreise) und den Hass gegen die diktatorischen und proimperialistischen Regimes angetrieben sind, auch den Widerstand der Massen jenseits der Grenzen dieser Region beflügelt zu haben.

Die Mobilisierungen beginnen, sich auf andere Gegenden der Welt auszudehnen

Im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca ging wieder einmal das Gespenst der Oaxaca-Kommune von 2006 um. Die Lehrer haben wieder die Straßen besetzt, um gegen eine Maßnahme des Präsidenten Calderóns zugunsten der privaten Bildung zu protestieren. Am 15. Februar lieferten sie sich gemeinsam mit anderen Sektoren der armen Bevölkerung eine siebenstündige Schlacht mit den Polizei- und Sicherheitskräften. Am Tag darauf führten sie einen Streik und eine Massendemonstration an, um gegen die Repression zu protestieren und den Rücktritt von Staatsfunktionären zu fordern.
In Bolivien sahen wir eine massive Teilnahme der Arbeiter und Armen in den zentralen Protesttagen für höhere löhne vom 18. Februar, die vom Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften (COB) vor allem auch gegen die inflationären Auswirkungen der nun gescheiterten Verordnung “Gasolinazo” [drastische Erhöhung der Treibstoffpreise] unter Evo Morales ausgerufen wurden. Trotz der Rolle des COBs, der die Proteste umzulenken um den Kampf abzuwürgen versucht, zeigt sich in diesen Massenmobilisierungen die Unzufriedenheit gegenüber den unpopulären Maßnahmen der MAS-Regierung.

Selbst in den USA, wo das politische Geschehen durch das Emporkommen der extremen Rechten um die Tea Party gekennzeichnet war, hat die Offensive des republikanischen Gouverneurs von Wisconsin, Scott Walker, die darauf abzielt die Gewerkschaften der Angestellten des öffentlichen Dienstes von den Tarifverhandlungen auszuschließen, eine wichtige Reaktion seitens der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Lehrerschaft ausgelöst. Diese haben sich am 23. Februar zu Zehntausenden zusammen mit Studierenden mobilisiert und organisierten Solidaritätsaktionen in mehreren US-Bundesstaaten. Obwohl die Gewerkschaftsführungen und die Demokratische Partei noch die Kontrolle über diese Bewegung haben, kündigt sie doch einen möglichen Beginn des Auflebens der amerikanischen Arbeiterklasse an, die stark von der Wirtschaftskrise angeschlagen ist und sich seit den 80er Jahren eher auf dem Rückzug befand.

Während wir diese Zeilen schreiben liefern sich auch die Lohnabhängigen und die Jugend Griechenlands auf den Straßen Athens schwere Auseinandersetzungen mit der griechischen Polizei, da sie den Kampf gegen die von der EU und dem IWF auferlegten Sparpakete aufgenommen haben.
Solch praktisch gleichzeitig ablaufende Aktionen des Klassenkampfes haben wir seit langem nicht mehr beobachten können. Diese Ereignisse wirken sich bereits auf die Ökonomie aus. So haben die Prozesse in der arabischen Welt allmählich zu einem Anstieg des Erdölpreises und weiterer Rohstoffe wie beispielsweise Weizen geführt. Das Schicksal Libyens, ein wichtiger Erdöllieferant mehrerer europäischer Großmächte, vertieft die Sorge an den internationalen Märkten über neue Folgen der Weltwirtschaftskrise bei unkontrollierten Preissteigerungen des Rohöls. Außerdem kann der Verlust von wichtigen Verbündeten wie von Mubarak wegen den geostrategischen Interessen der USA, die Hegemoniekrise des Imperialismus vertiefen.

Die Anfänge einer neuen Periode

Nach 30 Jahren bürgerlicher Restauration sind wir Zeuge der ersten Etappe einer neuen historischen Periode, in der die Massen wieder auftreten - wobei Form und Reichweite noch undefiniert bleiben.
Historische Analogien, wenn auch per Definition immer mangelhaft, sind doch von großem Nutzen um neue Prozesse analysieren zu können. In diesem Sinne haben wir die Analogie mit der bourbonischen Restauration genutzt, um die tiefgehende Bedeutung der neoliberalen Konterrevolution zu verstehen. Auch wenn sich kein historischer Moment wiederholt, kann doch die derzeitige Welle von Kämpfen mit dem „Völkerfrühling“ verglichen werden. Historisch gesehen bezeichnet man als „Völkerfrühling“ die revolutionäre Welle im Rahmen der 1846 ausgebrochene Wirtschaftskrise, die in Frankreich begann, sich auf das österreichisch-ungarische Imperium und auf das, unter seiner Kontrolle befindende Ungarn, dann auf Polen, Italien und weitere Völker Zentraleuropas ausbreitete. Diese ungleiche Welle konnte erst gegen Mitte 1850 mit dem Auslaufen der Krise gebremst werden, und endete mit dem revolutionären Prozess in Deutschland im selben Jahr und dem Putsch von Louis Bonaparte in Frankreich am 2. Dezember 1851.

Die Grenzen dieser historischen Analogie liegen darin, dass im Unterschied zum 19. Jahrhundert dieser neue „Völkerfrühling“ in der imperialistischen Epoche stattfindet, der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen. Wir befinden uns auch nicht in dergleichen Situation des modernen Proletariats, das (wie im Juniaufstand 1848 in Frankreich) sein erstes großes revolutionäres Auftreten erlebt. Vielmehr fußt die Arbeiterklasse heute auf gemachten Erfahrungen mit Revolution und Konterrevolution des 20. Jahrhunderts.

Trotzdem bevorzugen wir eher eine Analogie zu dieser Periode, die mit dem Sturz von Napoleon 1815 das Ende der europäischen Restauration einleitete, als eine Analogie mit der Periode des Anstiegs von Kämpfen ab 1968. Denn seit ihrem Beginn wies die erste Periode eine höhere Zentralität des Proletariats auf und die Massen hatten noch keine lange Periode von Rückschlägen durchmachen müssen. Der aktuelle Prozess trägt die Last von den Auswirkungen dreier Jahrzehnte bürgerlicher Restauration auf seinen Schultern. Dies dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen, denn der sich gerade entfaltende Zyklus des Klassenkampfes wird zweifellos beschwerlich und gleichzeitig aber auch schwer beherrschbar sein, da er inmitten der weltweiten Kapitalismuskrise entsteht. In den 68ern spielte auch die Jugend eine wichtige Rolle, vor allem jedoch eine bedeutende radikalisierte Avantgarde, die sich im Kampf gegen den Vietnamkrieg in zahlreichen ländern stärkte. Damals hielt der Wirtschaftsboom noch an (die Krise entfesselte sich erst 1973), während die laufende Krise, auch wenn die Kapitalisten auf Kosten einer horrenden Staatsverschuldung zwar in der Lage waren die Depression abzuwenden, weitreichender als die der 70er Jahre ist.

Der Kampf für den Aufbau einer revolutionären Führung

Die imperialistischen Mächte wurden zunächst von den Ereignissen überrascht, die ihren Verbündeten und bedeutendsten Agenten wie Ben Ali für Frankreich oder Mubarak für die USA zusetzten. Die imperialistische Heuchelei war eindeutig entlarvend, was ihren Diskurs über die Achtung der „Menschenrechte“ noch weiter diskreditierte. Mehr als dreißig Jahre lang haben die USA, Frankreich, Italien, Großbritannien, und andere, brutale diktatorische Regimes unterstützt, von Mubarak bis zur saudischen Monarchie.

Nach der anfänglichen Desorientierung besteht die Politik Obamas und der imperialistischen länder der Europäischen Union nun darin, soviel wie möglich von den Regimes zu halten, die von den Massen in Frage gestellt werden. Währenddessen stellen sie sich auf diskursiver Ebene auf die Seite der Demonstranten um ihnen ersatzweise einen „paktierten Ìbergang“ aufzuzwingen. Damit versuchen sie wesentliche Veränderungen ihrer geopolitischen Stellung und ihrer Geschäfte in der Region zu vermeiden. Dies bedeutet bezüglich Ägyptens vor allem, dass die Abkommen mit dem Israelischen Staat und die politische Unterordnung unter die US-amerikanischen Interessen fortbestehen. Deshalb wird sich in den nächsten Wochen und Monaten in der arabisch-muslimischen Welt entscheiden, ob die Prozesse eine Richtung annehmen, mit der die Arbeiter und ausgebeuteten Massen ihre Forderungen durchsetzten und sich von der imperialistischen Herrschaft und ihre Staatshalter befreien, oder ob sie die Unzufriedenheit der Massen aufhalten werden und der Sturz der diktatorischen Regimes zu neuen Regimes mit einem mehr oder weniger demokratisch-bürgerlichem Antlitz führt, die die zentralen Aspekte der imperialistischen Ordnung in der Region unangetastet lassen. Dies geschah in den 80er Jahren auch in Lateinamerika, wobei die arabische Region nicht die Last von historischen Niederlagen zu tragen hat, wie sie Lateinamerika durch die konterrevolutionären Putschs, die dort den revolutionären Aufschwung der 70er Jahre beendeten, ertragen muss.

Gegen diese Perspektive spricht, dass wir uns in einer weltweiten kapitalistischen Krise befinden, in der weitreichende Zugeständnisse an die Forderungen der Arbeiterklasse und unterdrückten Massen, die die revolutionären Prozesse entschärfen könnten, kaum machbar sind. Außerdem existieren bisher durch den autokratischen Charakter der meisten Regimes nur recht schwache politische Vermittlungsinstanzen, die dem Imperialismus dienlich sein könnten.

Wie bereits erwähnt, liegt die hauptssächliche Schwäche der Arbeiterbewegung nach drei Jahrzehnten bürgerlicher Restauration in der niedrigen revolutionären Subjektivität mit der die Arbeiterklasse in die aktuellen Prozesse eintritt. Die Massen, vor allem ihre progressivsten Sektoren, nehmen zwar den Kampf auf. Jedoch kämpfen sie noch ohne eine klare Strategie um die bürgerlichen Herrschaft zu zerstören und ihren eigenen Staat durchzusetzen. Dadurch wird verhindert, den Kampf bis zu seinem Ende zu führen. Bis jetzt scheint sich auch noch nicht ein klar antiimperialistisches Bewusstsein entwickelt zu haben, auch wenn die Regierungen und Regime gegen die sich die Aufstände entfacht haben, offen pro-imperealistisch sind. Die Massen hatten in der Vergangenheit schon ihre Wut gegen diese Regime aufgrund der Unterstützung des Irak Krieges oder ihrer Komplizenrolle bei den zionistischen Angriffen auf Palästina zum Ausdruck gebracht.

Wegen dieser Schwäche der Subjektivität nutzten die imperialistischen Mächte und die lokal herrschenden Klassen schon die Anfänge der revolutionären Prozesse für sich, indem sie sie einzudämmen und umzulenken versuchen. Nun wird alles davon abhängen, ob die neue Avantgarde der Arbeiterklasse und Jugend es schafft wirklich revolutionäre Organisationen aufzubauen, die es den Arbeitern, den armen Kleinbauern und der Gesamtheit aller Unterdrückten erlauben wird, an die Macht zu kommen.

In dieser Region, die heute das Epizentrum der Aufstände darstellt und auf eine wichtige Geschichte des antiimperialistischen Kampfes zurück blickt, waren die marxistisch-revolutionären Kräfte historisch schwach – zum Teil mit der Ausnahme Algeriens. Trotzdem haben und werden die laufenden Ereignisse der Region ohne Frage Auswirkungen unter den Arbeitern, der Jugend und den unterdrückten Massen der ganzen Welt hervorrufen. Das erneute Erscheinen von unabhängigen Massenaktionen beflügelt den Aufbau von revolutionären Arbeiterparteien – dies vor allem in ländern, wo der Klassenkampf nicht nur über eine lange Tradition verfügt, sondern auch über all diese Jahre eine gewisse Intensität beibehalten hat und trotzkistische Organisationen und Traditionen stark vertreten sind. So ist es in Frankreich der Fall, wo unsere Genossen innerhalb der Neuen Antikapitalistischen Partei NPA das Kollektiv für eine Revolutionäre Tendenz (die Plattform 4) anstoßen oder auch in Argentinien, wo unsere Partei der Sozialistischen Arbeiter (PTS) wichtige Schritte in der Organisierung der Arbeiter- und Jugendavantgarde macht. Die Ereignisse, die wir gerade miterleben, stärken unseren Einsatz für den Kampf um den Aufbau revolutionärer Parteien, die in der Arbeiterklasse verankert sind und für den Wiederaufbau der Vierten Internationale, der Weltpartei der Sozialen Revolution.

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