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Die Theorie der Revolution nach Trotzki und nach Gramsci
von : Emilio Albamonte , Manolo Romano

01 Jan 2003 | Wenn man diese Äußerung Gramscis oder andere, die in dieselbe Richtung gehen, betrachtet, könnte man zu der voreiligen Annahme kommen, dass er, was die um 1924 herum in der Sowjetunion eröffnete Debatte angeht, eine mit der Theorie der permanenten Revolution solidarische Position vertreten habe. In Wirklichkeit jedoch treten seine Differenzen mit (...)

„Man weiß, dass im November 1917, als Lenin und die Mehrheit der Partei sich der Position Trotzkis angenähert hatten und versuchten, nicht nur die politische sondern auch die ökonomische Macht zu übernehmen, Sinowjew und Kamenew starr auf der traditionellen Position der Partei beharrten und sich für eine revolutionäre Koalitionsregierung einsetzten. Deswegen schieden sie aus dem Zentralkomitee aus und waren kurz vor einer Spaltung.“

Wenn man diese Äußerung Gramscis oder andere, die in dieselbe Richtung gehen [1], betrachtet, könnte man zu der voreiligen Annahme kommen, dass er, was die um 1924 herum in der Sowjetunion eröffnete Debatte angeht, eine mit der Theorie der permanenten Revolution solidarische Position vertreten habe. In Wirklichkeit jedoch treten seine Differenzen mit der Theorie von Trotzki – abgesehen von dieser Einschätzung der Lage in Russland an einigen Stellen – deutlich zu Tage.

„Politischer Begriff der sogenannten ”šPermanenten Revolution‘, vor 1848 als wissenschaftlich ausgearbeiteter Ausdruck der jakobinischen Erfahrungen von 1789 bis zum Thermidor entstanden. Die Formel gehört einer historischen Epoche an, in der die großen politischen Massenparteien und die großen ökonomischen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Aspekten sozusagen noch im flüssigen Zustand war: größere Zurückgebliebenheit des Landes und nahezu vollständiges Monopol der politisch-staatlichen Wirksamkeit in wenigen Städten oder gar nur in einer (Paris für Frankreich), relativ wenig entwickelter Staatsapparat und größere Autonomie der Zivilgesellschaft gegenüber der Tätigkeit des Staates, bestimmtes System der militärischen Kräfte und der nationalen Bewaffnung, größere Autonomien der Ökonomien gegenüber den ökonomischen Verhältnissen des Weltmarktes usw. In der Zeit nach 1870 verändern sich mit der europäischen Kolonialexpansion alle diese Elemente, die internen und internationalen Organisationsverhältnisse des Staates werden komplexer und massiver, und die achtundvierziger Formel der ”špermanenten Revolution‘ wird in der politischen Wissenschaft in der Formel der ”šzivilen Hegemonie‘ umgearbeitet und aufgehoben. (…) Die Frage stellt sich für die modernen Staaten, nicht für die zurückgebliebenen länder und für die Kolonien, wo noch die Formen vorherrschen, die andernorts überwunden und anachronistisch geworden sind.“ [2]

Gramsci bezieht sich auf die ersten Versionen der Theorie der „permanenten Revolution“, die im Umfeld der russischen und europäischen Revolutionen entstanden sind und nicht auf die endgültige Formulierung der Theorie von 1929. Dies erklärt sich dadurch, dass er zu dem Zeitpunkt bereits drei Jahre im Gefängnis saß und ihm der Zugang zu Informationen durch den Stalinismus versperrt wurde, so dass er die endgültige Theorie gar nicht kannte. Gerade die Theorie der permanenten Revolution, wie sie nach der chinesischen Revolution fertiggestellt wurde, widmete den „zurückgebliebenen ländern und den Kolonien, in denen noch immer Wirtschaftsformen herrschen, die allerorts überwunden scheinen und anachronistisch geworden sind“, besondere Aufmerksamkeit.

Wie dem auch sei, selbst wenn man die Kritik Gramcis auf den Charakter der europäischen Revolution beschränken könnte: Trotzki ließ keinen Zweifel daran, dass sich die Zeiten seit den Lebenszeiten Marx’ geändert haben: „Alle Befreiungsbewegungen der jüngeren Vergangenheit, wie zum Beispiel der holländische Unabhängigkeitskrieg, hatten sowohl einen nationalen als auch einen demokratischen Charakter. Das Erwachen der unterdrückten und zersplitterten Nationen, ihr Kampf für die innere Einigung und die Befreiung vom fremden Joch, ist untrennbar mit dem Kampf für politische Freiheit verbunden. Die französische Nation festigte sich in den Stürmen und Wirren der demokratischen Revolution Ende des XVIII. Jahrhunderts. Die deutsche und die italienische Nation entstanden aus einer Reihe von Kriegen und Revolutionen. Die mächtige Entwicklung der amerikanischen Nation, die ihre Freiheitstaufe durch den Unabhängigkeitskrieg im XVIII. Jahrhundert erhielt, wurde endgültig durch den Sieg des Nordens über den Süden im Bürgerkrieg gesichert. Weder Mussolini noch Hitler haben die Nation erfunden. Der Patriotismus im modernen Sinne – genauer gesagt im bürgerlichen Sinne – ist ein Produkt des XIX. Jahrhunderts. (…) Hitler hat 1914-1918 als Gefreiter nicht für die Einigung Deutschlands sondern viel mehr im Dienste einer supranationalen Kampagne gekämpft, einem imperialistischen Projekt zur ”šOrganisation Europas’ unter der Herrschaft des deutschen Militarismus (…). Es ist wahr, dass der Krieg, wie alle heftigen geschichtlichen Erdbeben, verschiedene Probleme ans Licht gebracht hat und auch in den zurückgebliebensten Sektoren Europas, wie im zaristischen Russland oder in Österreich Ungarn, den Anstoß zur nationalen Revolution gegeben hat, jedoch waren dies nichts Anderes als die Nachwehen einer bereits vergangenen Epoche.“ [3]

Allerdings ist die Beziehung zwischen antikolonialer Revolution und dem Imperialismus in der neuen Epoche alles andere als eine Kleinigkeit. Die Theorie der permanenten Revolution als Theorie der internationalen sozialistischen Revolution stellt einen engen Zusammenhang zwischen den Kolonien und den Zentren des Imperialismus her, dem Gramsci nicht genug Beachtung schenkt. Schlimmer noch, Gramsci verwendet eine unklare Unterscheidung zwischen „Orient und Okzident“, die einen Rückgang zur von Lenin immer wieder betonten klaren Unterscheidung zwischen unterdrückenden und unterdrückten ländern darstellt, die Teil des Erbes der Dritten Internationale war. Trotzkis Ansicht über die fortschrittlichen Demokratien des Okzidents und die zurückgebliebenen Staatsformen des Orients ist folgende: „Während der Imperialismus in den alten kapitalistischen Mutterländern die Demokratie zerstört, hemmt er in der selben Zeit die Entwicklung der Demokratie in den zurückgebliebenen ländern. Die Tatsache, daß in der gegenwärtigen Epoche nicht eine der Kolonien oder Halbkolonien ihre demokratische Revolution durchführte, speziell in der Agrarfrage, ist zur Gänze Schuld des Imperialismus, der zur Hauptbremse des ökonomischen und politischen Fortschritts geworden ist. Die natürlichen Reichtümer der zurückgebliebenen länder vollkommen ausplündernd, und die Freiheit ihrer selbständigen Industrie hemmend, gewähren die Trustmagnaten und ihre Regierungen den halbfeudalen Gruppen eine finanzielle, politische und militärische Stütze zur Aufrechterhltung der reaktionärsten, parasitärsten Ausbeutung der Eingeborenen. Die künstlich erhaltene Agrarbarbarei ist heute gleichzeitig die schlimmste Geißel der Weltwirtschaft. Der Kampf der Kolonialvölker um ihre Befreiung verwandelt sich, die Zwischenetappen überspringend, mit Notwendigkeit in einen Kampf gegen den Imperialismus und unterstützt dadurch den Kampf des Proletariats in den Mutterländern. Die kolonialen Aufstände und Kriege untergraben die Fundamente der kapitalistischen Welt und machen das Wunder ihrer Wiedergeburt weniger denn je möglich.“ [4]

Abgesehen davon war die Theorie der permanenten Revolution selbst in ihren frühesten Versionen niemals eine bloße Ausweitung von Marx’ „’48er Formel“. Ergründen wir, wieso Gramsci nur eine Karikatur von Trotzkis Theorie macht. Die Permanenz der Revolution im Marxschen Sinne besteht darin, dass das Proletariat, indem es seine Unabhängigkeit als Partei bewahrt, ständig neue Forderungen aufstellt, die immer einen Schritt weiter gehen als die radikale kleinbürgerliche Demokratie: Das Proletariat darf sich nicht an die bürgerlichen Grenzen halten, nicht einmal während des Zyklus der bürgerlich-demokratischen Revolutionen des XIX. Jahrhunderts. Trotzki konnte gar nicht umhin, sich der These Gramscis anzuschließen: „In der Tat erschöpfen sich geschichtlich erst 1870-71 mit dem kommunalistischen Versuch [also der Pariser Kommune, A.d.R.] alle 1789 entstandenen Keime, das heißt, nicht nur besiegt die um die Macht kämpfenden neue Klasse die Repräsentanten der alten Gesellschaft, die sich ihre endgültige Ìberlebtheit nicht eingestehen will, sondern sie besiegt auch die Repräsentanten der allerneuesten Gruppen, welche die neue, aus der 1789 begonnenen Umwälzung hervorgegangene Struktur schon für überholt erklären, und beweist so ihre Lebenskraft sowohl im Vergleich zum Alten als auch im Vergleich zum Neuesten. Außerdem verliert mit 1870-71 das Ensemble von Prinzipien politischer Strategie und Taktik seine Wirksamkeit, die praktisch mit 1789 entstanden waren und ideologisch um ‘48 entwickelt wurden (diejenigen, die in der Formel der ”špermanenten Revolution‘ zusammengefasst werden (…)).“ [5]

Ganz im Gegenteil dazu erkennt die Theorie Trotzkis im Zeitalter der Herrschaft des Imperialismus die weltweite Reife der Produktivkräfte Anfang des XX. Jahrhunderts an, die vielerorts, wie z.B. in Russland oder anderen rückständigen ländern, mit äußerst rückständigen Besitzverhältnissen und veralteten Formen der Politik kombiniert war. So entwickelt sich seine Theorie eben gerade nicht in der Hoffnung auf das Andauern oder die Wiederholung der Mechanik der bürgerlich-demokratischen Revolutionen im 1848er Stil. Diesmal würde das Proletariat die Klasse sein, welche die führende Rolle in dem Kampf für die Abschaffung der Reste des Feudalismus übernahm und nicht die liberale Bourgeoisie, die mittlerweile durch und durch reaktionär war. Durch eine im Vergleich zu Marx’ Zeiten neue Dynamik im Klassenverhältnis würde das Proletariat die Grenzen des bürgerlichen Rechts überschreiten und seine Aufgabe im Aufbau des Sozialismus sehen. Diese strategische Perspektive, die Trotzki bereits seit 1905 sah, konkretisierte sich, wie wir in dem zuvor zitierten Brief Gramscis sehen konnten, mit der russischen Revolution von 1917. Und niemand außer Trotzki konnte dies für das „zurückgebliebene Russland“ vorhersagen, denn anders als andere MarxistInnen, die immer noch „nach Marx“ argumentierten, brach der russische Revolutionär im Gegensatz zu dem, was Gramsci sagte, dialektisch mit der alten Formel.

Was die konkreten Bedingungen der italienischen Revolution nach dem Triumph des Faschismus angeht, reduzierte Trotzki sie nicht einfach auf die Formel „Faschismus oder Sozialismus“ da er „Ìbergangsperioden“ überhaupt nicht ausschloss. Für ihn ging es nur darum, wie er in einem Brief an die italienische Links-Opposition ausführte, den Charakter dieses Ìbergangs genau zu präzisieren. Seine Theorie ist eben genau die vom Ìbergang zur proletarischen Revolution. „Bedeutet die permanente Revolution etwa, dass sich Italien für eine gewisse Zeit nicht wieder in einen parlamentarischen Staat bzw. eine ”šdemokratische Republik‘ verwandeln kann? Ich halte – und ich glaube in diesem Punkt sind wir uns vollkommen einig – diese Eventualität nicht für ausgeschlossen. Jedoch wird sie nicht das Produkt einer bürgerlichen Revolution sein, sondern das Ergebnis der Abtreibung einer unausgereiften und verfrühten proletarischen Revolution. Wenn eine tiefe revolutionäre Krise ausbricht und es zu Massenschlachten kommt, im Zuge derer die proletarische Avantgarde nicht die Macht ergreift, wird die Bourgeoisie möglicherweise ihre ”šdemokratische‘ Herrschaft wiederherstellen.“ [6]

Eine weitere Schlussfolgerung, die sich daraus ziehen lässt, ist, dass es, zumindest was die nationale Ebene in Italien angeht, eine gewisse „Permanenz“ bei Gramsci gibt. Im Grunde genommen beruht die Strategie, die er für die Revolution in Italien erarbeitete, mit all ihren strukturellen Eigenheiten (und auch unabhängig vom faschistischen Regime), auf einer Rückkehr zur nationalen Geschichte und im Erkennen der Aufgaben, welche die Bourgeoisie nicht bzw. auf ihre eigene, unvollständige und ausschließende Art und Weise erfüllt hat. Daher stammt auch der Begriff „passive Revolution“, mit dem er das Risorgimento beschreibt. Besondere Aufmerksamkeit widmet er in dieser Hinsicht der süditalienischen und der Bauern/Bäuerinnenfrage. Dies bedeutet nichts anderes, als dass er zumindest teilweise der Permanenz in der Theorie Trotzkis folgt: Diejenigen bürgerlich-demokratischen Aufgaben, die die Bourgeoisie in der Periode ihres Aufstiegs nicht lösen konnte, kann jetzt im Zeitalter ihrer Dekadenz nur das Proletariat, unterstützt von den Massen der Bauern/Bäuerinnen, lösen. Diese Frage war, wie man an der Beschäftigung Gramscis mit Italien ablesen kann, nicht nur für die kolonialen länder, sondern auch für die länder mit einer zurückgebliebenen bürgerlichen Entwicklung relevant [7].

Die Theorie Trotzkis umfasst diejenige Gramscis

Allerdings läßt sich nicht das Gegenteil behaupten, dass die Konzeption der Revolution von Gramsci die von Trotzki beinhalten würde. Auch wenn Gramsci in seinen Ausführungen zu Italien einen der Aspekte der Permanenz der Revolution erkannt hatte (das Herüberwachsen der demokratischen Revolution in die sozialistische Dynamik durch das Bündnis mit der Bauernschaft, geführt durch die ArbeiterInnenklasse), reichte dies bei weitem nicht aus, um ihn zu einem Parteigänger der permanenten Revolution zu machen. Denn die Theorie der permanenten Revolution war – besonders deutlich seit der Formulierung von 1929 – eine Theorie der internationalen sozialistischen Revolution und deswegen die einzige, die sich konsequent gegen die Pseudo-Theorie des „Sozialismus in einem Land“ wendete [8]. Wie Trotzki dazu sagte: „Das von Bucharin geschaffene Programm der Kommunistischen Internationale ist durch und durch eklektisch. Es macht den hoffnungslosen Versuch, die Theorie des Sozialismus in einem Lande mit dem marxistischen Internationalismus, der von dem permanenten Charakter der Weltrevolution untrennbar ist, zu versöhnen.“ [9]

Und Gramsci wendet sich nicht vom Programm der Kommunistischen Internationale ab, als sie dieses Konzept aufnimmt. Wir behaupten nicht, dass Gramsci sich die rechte Politik (die sich in einigen Formeln wie der„Bauern, bereichert euch!“ oder des „friedlichen Hineinwachsens des Kulaken in den Sozialismus“ etc. zusammenfassen lässt) des Bucharin-Stalin-Blockes zu eigen gemacht hätte, wie sie in den Jahren ‘24 bis ‘28 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Jedoch definierte er seine Position hauptsächlich aus dem privilegierten Blickwinkel der nationalen Revolution in Italien und in zentristischer Versöhnung mit der Politik der Komintern. In dieser Angelegenheit schrieb er im Jahr 1926 einen Brief an Palmiro Togliatti, in dem er Amadeo Bordiga dafür kritisiert, dass er sich in den Fraktionskämpfen innerhalb der Internationale als „internationale Minderheit“ neben der linken Opposition positionierte, während Gramsci der Meinung war, dass man als „nationale Mehrheit“ der italienischen Partei auftreten solle [10]. Und dies nicht etwa, weil er vorausgesehen hätte, dass eine erfolgreiche proletarische Revolution in Italien die Karten innerhalb Europas neu verteilen und sich so auch das Kräfteverhältnis innerhalb der Komintern ändern würde. Gramsci tappt in die Falle des Fatalismus, indem er den teilweisen Rückgang der revolutionären Kräfte überbewertet und das „instabile Gleichgewicht“, das der Kapitalismus in den ‘20er Jahren erreicht hatte, als etwas anderes, „größeres“ ansieht: als einem Rückstand der „zur Verfügung stehenden subjektiven Kräfte“ welches seinem „methodologischem Kriterium“ Nahrung gibt, die Periode im Licht der Möglichkeit zu interpretieren, dass der Kapitalismus sich überlebt, ohne Kriege die „katastrophale Phase“ überwindet und so eine Periode „passiver Revolutionen“ auslöst.

Trotzki versuchte im Gegensatz dazu, auf der Basis der politischen Prognose einer neuen katastrophalen Phase, für eine Richtungsänderung der Politik der Komintern zu kämpfen, und nicht nur für die Bildung von „Minderheiten“, auch wenn das schließlich das Ergebnis des Kampfes war. Gramsci, offensichtlich durch die Jahre im Kerker und der Isolation gezeichnet, scheint aus einem Blickwinkel zu argumentieren, der die Bewahrung des Triumphes in der Sowjetunion in den Vordergrund stellt, da er den Bruch des Bündnisses der Bauern/Bäuerinnen mit der ArbeiterInnenklasse fürchtete und sich um die Einheit der russischen Partei sorgte. Gibt er der Theorie und Politik des „Sozialismus in einem Land“ nach, weil er die Notwendigkeit, die vom internationalen Proletariat eroberte „Stellung“ zu halten, selbst um den Preis des Stalinismus, über alles stellte, zumindest solange keine neuen Stellungen erobert werden konnten? Dies lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, aber es verweist auf die programmatischen Positionen der beiden Revolutionäre.

Stellung, Manöver und Ìbergangsprogramm

Gramsci geht folglich davon aus, dass „die achtundvierziger Formel der ”špermanenten Revolution‘ in der politischen Wissenschaft in der Formel der ”šzivilen Hegemonie‘ weiterentwickelt und überwunden wird.“ Und darauf beruhend behauptet er: „In der politischen Kunst findet statt, was auch in der Kriegskunst stattfindet: Der Bewegungskrieg wird immer mehr zum Stellungskrieg, und man kann sagen, daß ein Staat einen Krieg gewinnt, insofern er ihn peinlich genau und technisch in Zeiten des Friedens vorbereitet. Die massive Struktur der modernen Demokratien, sowohl als staatliche Organisationen als auch als Komplex von Vereinigungen im zivilen Leben, bilden für die politische Kunst so etwas wie die ”šSchützengräben‘ und die dauerhaften Befestigungen der Front im Stellungskrieg: Sie machen das Element der Bewegung, das vorher der ”šganze‘ Krieg war, zu einem ”špartiellen‘, usw.“ [11]

Gramscis „stellungsorientierte“ Formel, was auch immer sie an Mehrdeutigkeit transportieren mag, wurde vom Reformismus – egal ob vom Stalinismus oder von der Sozialdemokratie – aufgegriffen, um eine kautskyanische „Ermattungsstrategie“ zu rechtfertigen, die darauf abzielte, „Schützengräben“ ohne Manöverbewegungen zu besetzen, in das bürgerliche Regime einzudringen, ohne Aufstand oder Versuch der Machteroberung, was eine monströse Karikatur des Gedankenguts des italienischen Kommunisten darstellt. Auf ähnliche Art und Weise hat man auch versucht, Trotzki zu karikieren, und versucht es bis zu einem gewissen Grade auch heute noch mit dem Trotzkismus (oder zumindest mit den Sektoren des Trotzkismus, die wie wir eine revolutionäre Sprache verwenden), indem man sie als naive VertreterInnen der permanenten Offensive abstempelt.

In Wirklichkeit hat Trotzki niemals eine voluntaristische Position der permanenten Offensive vertreten, weder in den Friedensverhandlungen zwischen der entstehenden Sowjetunion und Deutschland, trotz den die Verhandlungen von Brest-Litowsk betreffenden Differenzen zwischen ihm und Lenin; noch auf dem II. Kongress der Dritten Internationale, auf dem er sich mit Lenin zusammen als „rechter Flügel“ vom linken Extremismus der Deutschen distanzierte. Betrachten wir einige weitere, äußerst wichtige Beispiele.

In seinen „Lateinamerikanischen Schriften“ [12] macht er einen bemerkenswerten Gebrauch von „Schützengräben“ und „Stellungen“, wenn er die Verteidigung der Verstaatlichung des Erdöls in Mexiko, die der Nationalist Lázaro Cárdenas dekretiert hatte, vorschlägt. Von dieser Stellung aus, so sein Vorschlag, lassen sich neue Stellungen erobern, wie z.B. die ArbeiterInnenkontrolle der Erdölförderung. Bei dieser Gelegenheit weist er auch auf den Gebrauch hin, den wir RevolutionärInnen von der Regierungsmacht in einer Stadt oder sogar einer Provinz machen könnten. Statt wie die „transformierten“ Ex-TrotzkistInnen der PT in Brasilien, die die Regierungen in Städten wie Porto Alegre und Bundesstaaten wie Rio Grande do Sul stellen, einen rein reformistischen Gebrauch davon zu machen, könnten wir sie als Tribüne nutzen, um die unaufschiebbare Notwendigkeit der Ziele der Diktatur des Proletariats auf nationaler Ebene aufzuzeigen. Trotzki war die Idee, „dass man einen Krieg gewinnt, indem man sich in Friedenszeiten genauestens darauf vorbereitet“, keineswegs fremd. Deswegen bezeichnete er die lateinamerikanischen Regierungen der ‘30er Jahre als Ergebnis eines eigenartigen Kräfteverhältnisses zwischen dem jungen Proletariat und dem ausländischen Kapital, als den grundlegenden Klassen, zwischen denen die nationalen Bourgeoisien versuchten, ein „instabiles Gleichgewicht“ (das heißt, einen relativen Frieden) herzustellen (was er einen Bonapartismus sui generis nannte).

Auch zeigte er in der Kriegskunst selbst, während des russischen BürgerInnenkriegs, in dem er ein politisch-militärischer Führer war, dass er die Kombination von Stellung und Bewegung beherrschte. Im spanischen BürgerInnenkrieg vertrat er, entgegen des Etappenmodells der Führung der republikanischen Front, dass neue ländereien enteignet und unter den Bauern/Bäuerinnen verteilt werden müssten oder dass die Fabriken verstaatlicht und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden müssten (wirtschaftlich-gesellschaftliche Stellungen), um jeden militärischen Gebietsgewinn der republikanischen Truppen zu festigen (Manöver), und dass diese neuen Positionen („Meilensteine des Sozialismus“) nicht bis nach dem endgültigen Triumph im BürgerInnenkrieg aufgeschoben werden dürften, wie es die SozialdemokratInnen, StalinistInnen und sogar die AnarchistInnen forderten.

Und natürlich ist die Idee der „politischen Revolution“ die neuartige Kombination aus Verteidigung der vom internationalen Proletariat eroberten Stellung, der Verstaatlichung der Produktionsmittel in der Sowjetunion, und der Forderung nach dem „revolutionären Sturz der thermidorianischen Bürokratie“, um diesen „Schützengraben“ in Gefechtsverfassung für die internationale sozialistische Revolution zu bringen. Dabei distanzierte er sich jedoch immer von denjenigen, die nicht die Verteidigung der Sowjetunion propagierten: „Wer nicht in der Lage ist, gewonnene Positionen zu verteidigen, wird auch keine neun erobern können“.

Angesichts des bevorstehenden Zweiten Weltkriegs, als es klar war, dass dieser auch nicht mehr durch „Revolutionen von unten“ aufgehalten werden konnte (nach den Niederlagen in Spanien und Frankreich), entwarf Trotzki die kühnste aller politischen Taktiken. Die „proletarische Militärpolitik“ (PMP) war ein Leitfaden zur aktiven Intervention in den Krieg als der reaktionärsten der bürgerlichen Institutionen – diese ließe sich jedoch laut Trotzki genauso von den RevolutionärInnen nutzen wie das Parlament. Die „proletarische Militärpolitik“ besagte, dass während alles daran gesetzt wird, dass das kämpfende internationale Proletariat sich des imperialistischen Charakters des Krieges im Allgemeinen bewusst würde, gleichzeitig spezielle Taktiken entwickelt werden müssten, sowohl für die amerikanischen ArbeiterInnen, die Hitler besiegen wollten, als auch für die FranzosInnen oder PolInnen, die gegen die Nazi-Unterdrückung im eigenen Land kämpfen wollten. Mitten im Aufruhr, den dieser Krieg bedeutete – und der für Trotzki die „objektiven und die subjektiven Faktoren in Ìbereinstimmung brachte“ -, konzentrierte er in einer einzigen Politik alle drei „Momente“ des „Kräfteverhältnisses“, die Gramsci benennt: das „Moment des Bruchs“ des Proletariats mit seiner eigenen Bourgeoisie, mittels einer Politik, die die „ArbeiterInnen in Waffen“ von den „normalen“ Rekruten der imperialistischen Heere trennt; das „politische Moment“, in dem der Krieg und das „nationale Ziel“ dem Klassenkampf nicht im Weg stehen und damit die Entwicklung von „Oktobern“ wie dem russischen im Krieg 1914-18 nicht unterbrechen; das „militärische Moment“, in dem er unter Fortsetzung und Weiterentwicklung der leninistischen Politik aus dem Ersten Weltkrieg eine neue Art und Weise der „Umwandlung des imperialistischen Krieges [dies schließt alle anderen Aspekte dieses Krieges, wie die Verteidigung der Sowjetunion, oder der nationalen Unterdrückung in den besetzten ländern mit ein, A.d.R.] in einen BürgerInnenkrieg“ vorschlägt.

Gramscis „Momente“ werden häufig als voneinander getrennte Etappen, wie in einer statischen Struktur, interpretiert (und Gramsci hat dieser Interpretation Vorschub geleistet), während bei Trotzki immer die Kombination von Etappen, Zeiten, Momenten und dynamischen Definitionen präsent ist. Was das angeht, folgt er dem Beispiel Lenins, der mit seiner Definition von Etappen und Situationen die Kategorie der Zeit in die revolutionäre Politik mit einbaut. Die Logik der Kombination von Ungleichheiten ist nicht nur für die Theorie der permanenten Revolution bestimmend, sondern auch für die Methode, die zum Ìbergangsprogramm führt.

Dieses Programm wurde in den Vereinigten Staaten selbst diskutiert, mit der ganzen Komplexität, die dies mit sich brachte, angefangen von den Bedingungen des Amerikanismus und des „new deal“. Aus seiner Logik entstand der kühne Vorschlag von Forderungen zur Entlarvung der Regierung Roosevelts, etwa nach einem echten Plan öffentlicher Arbeiten, der die Massenarbeitslosigkeit endgültig beseitigen würde.

Perry Anderson stellt die These auf, dass obwohl Trotzki die politischen Regime Europas besser kannte und korrekte Taktiken – wie die radikaldemokratische Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung in Frankreich und in Spanien – aufstellte, es trotzdem Gramsci sei, der sich die beunruhigendsten Fragen darüber stellte, wie man die stabilsten bürgerlichen Demokratien von links überwinden könne. Dies gewann an Bedeutung nicht etwa in der Vorkriegszeit, in der die Demokratien dem Faschismus oder dem Bonapartismus wichen, oder an extreme Regime wie die Volksfronten appellierte, sondern in den stabilen Demokratien im Nachkriegseuropa. Aber das Ìbergangsprogramm selbst stellt auch Forderungen wie z.B. nach ArbeiterInnenkontrolle der Produktion auf, welche selbst in Zeiten, in denen sich die Frage der Machteroberung nicht direkt stellt, dazu genutzt werden können, das Proletariat dazu anzustiften, neue Stellungen zu erobern, die das Privateigentum in Frage stellen und es auf größere Kämpfe vorbereiten.

Laut der Diskussionen in der amerikanischen SWP vor der Verabschiedung des Ìbergangsprogramms galt der programmatische Korpus als „maximal“ für die ReformistInnen (die nur in Kategorien von Stellungen denken) und ausgesprochen „minimal“ für die LinksextremistInnen (die nur in Manöverkategorien denken) [13]. Tatsächlich enthält das Ìbergangsprogramm und seine Methode sowohl Minimalforderungen, soweit sie ihre „Lebenskraft“ behalten (d.h. sie alte Positionen sind, die es zu verteidigen gilt), als auch weitergehende Forderungen, die eine Skala von zu erobernden Stellungen betreffen (von der gleitenden Skala der löhne und Arbeitszeiten und die ArbeiterInnenkontrolle über die Industrie bis hin zu Sowjets), die hier dazu benutzt werden, den „Bewegungskrieg“ zu eröffnen, d.h. die Machteroberung durch das Proletariat vorzubereiten und durch diese Vorbereitung selbst schon neue Stellungen einzunehmen, einen nationalen Schützengraben der internationalen Revolution.

Das Ìbergangsprogramm ist vom Standpunkt dieser Diskussion aus gesehen die Brücke, der Ìbergang von der Stellung zum Manöver.

Klasse und Partei

Zum Abschluss möchten wir noch einige Fragen ansprechen, die wir in kommenden Studien ausarbeiten werden: die komplexe Beziehung zwischen Spontaneität und Bewusstsein, zwischen realer revolutionärer Bewegung und Partei, zwischen den marxistischen Intellektuellen und der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse.

Bei Gramsci gibt es zwei klar erkennbare Perioden, was die Bewertung der Beziehung zwischen der Aktion der ArbeiterInnen und der revolutionären Partei angeht. Die erste Phase ist die, welche von der Publikation von „L’Ordine Nuovo“ bestimmt ist. Unter dem Einfluss des italienischen „Bienio Rosso“ von 1919-1921 und den Fabrikbesetzungen in Turin sieht er die entstandenen ArbeiterInnenräte als „konkrete Form eines neuartigen politischen Prozesses, welche auf Grund dessen, dass sie ihren Ursprung in der Produktion haben, durch politische Manöver oder partielle Veränderungen im bürgerlichen Staat nicht vereinnahmt werden können.“ [14] Diese Einschätzung, die die bewusste Aktion der revolutionären Partei unterbewertet, wurde sowohl in Italien als auch in Deutschland widerlegt, wo der Reformismus eine Art „kombinierten Staat“ zwischen parlamentarischer Republik und ArbeiterInnenräten vorschlug, und so zeigte, dass ohne eine zentrale revolutionär-marxistische Führung verschiedene „politische Manöver und partielle Modifizierungen des Staates“ aufkommen, die die Selbstorganisation der Massen aufgreifen und so neutralisieren.

Ab dem Jahr 1926, auf dem Kongress von Lyon, nimmt Gramsci, im Gegensatz zur Periode von L’Ordine Nuovo, eine klar Pro-Partei-Position ein, die in weiten Teilen auf antidialektische Weise seine ehemaligen Positionen über die Rolle der ArbeiterInnenräte revidiert. Seine Thesen aus jener Zeit sind notorisch beeinflusst von der sinowjewschen Ìberbewertung der „Zellen“ der kommunistischen Partei als Basis der Organisation der ArbeiterInnenklasse. Dessen ungeachtet folgt das Konzept der Partei bei Gramsci in seinen Schriften aus dem Gefängnis neuen Bahnen, vollkommen verschieden von dem Konzept der substitutionistischen Partei des Stalinismus, von dem man vorher Spuren finden konnte.

Bei dem Versuch, allgemeine Konzepte zu schematisieren und Gramsci in sie einzuordnen, lässt sich sagen, dass es drei Typen von Partei gibt, was die Verbindung des Marxismus mit der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnenklasse angeht. Bei den Parteien vom kautskyanischen Typ, wie es dem sozialdemokratischen Reformismus eigen ist, ist das taktische Moment vollkommen überbewertet, d.h. für sie ist „die Bewegung alles“. Bei der leninistischen Partei definiert und trennt man Verbündete von GegnerInnen nach strategischen Zielen – als Trotzki einmal verstanden hatte, dass eine Einheit der Partei mit den Menschewiken unmöglich war, gab es keinen besseren Bolschewiken als ihn, sagte Lenin 1917 über seinen einstigen Gegner. Gramsci seinerseits, kohärent in seiner Analyse der Rolle, die die Ideologien bei der bürgerlichen Herrschaft im modernen Staat spielen, entwickelt die Aspekte des Kampfes an der „dritten Front“ der parteilichen Aktivitäten, die Engels bereits aufgezeigt hatte: der des ideologischen Kampfes, zusammen mit dem wirtschaftlichen und dem politischen Kampf. Aber in seinem Konzept der Partei als „kollektivem Intellektuellen“ gibt es eine Ìbersteigerung dieses ideologischen Kampfes und der Rolle der „Partei als Erzieherin“ der Massenbewegung der ArbeiterInnenklasse. Die wichtigste Rolle der Intellektuellen innerhalb der Partei sei es, einen neuen „common sense“ in der ArbeiterInnenmassenbewegung zu schaffen: den Marxismus. Widersprüchlich ist, dass gerade er (der wichtige Beiträge zur „politischen Wissenschaft“ geleistet hat und die Bedeutung des „ArbeiterInnenbewusstseins“, das sich in den Fabrikräten bildete, hervorhob) sich zu einer falschen Schlussfolgerung verleiten ließ, die den ideologisch-kulturellen Kampf über die Politik stellte und nicht auf einer aktiven Austauschbeziehung zwischen Partei und Sowjets bestand, durch die „die Erzieherin erzogen wird“. Die italienische Nachkriegs-KP machte sich dies zu Nutze und verzerrte diesen Fehltritt auf reformistische Art und Weise, um die Kultur und die ideologischen Debatten mit den ReformistInnen voranzutreiben, vor dem Hintergrund, dass sie eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung der bürgerlichen Demokratie spielen wollte.

Trotzki wird ein Fortführer des „reifen“ Bolschewismus sein, der nach der Erfahrung mit den ersten ArbeiterInnenräten 1905 die These aus „Was tun?“ von Lenin korrigierte, nach der das Klassenbewusstsein nur „von außen“ in die ArbeiterInnenbewegung hereingetragen werden könne. Was die Beziehung zwischen Sowjet und Partei angeht, sagte er, auf die Erfahrungen der russischen Revolution gestützt: „Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt.“ [15] Davon ausgehend wurde er ein überzeugter Anhänger der Idee einer leninistischen Kampfpartei.

 

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