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Protestwelle in Bolivien
von : RIO | Revolutionären Internationalistischen Organisation, Deutschland

03 Jun 2012 | Seit anderthalb Monaten wird Bolivien von einer Welle verschiedenster sozialer Proteste überzogen, die in La Paz mehr als 10.000 Menschen auf die Straße brachten.

Von Lucho Espinoza Gonzales

Seit anderthalb Monaten wird Bolivien von einer Welle verschiedenster sozialer Proteste überzogen, die in La Paz mehr als 10.000 Menschen auf die Straße brachten. Die Indigenen vom “Nationalpark und Indigenen Schutzgebiet Isiboro Securé” (TIPNIS) protestieren mit einen knapp 700 Kilometer langen Marsch auf die Hauptstadt La Paz gegen den Bau einer Schnellstraße durch das Herz ihres Gebietes. Die LehrerInnen befinden sich im Lohnkampf, der bolivianische Gewerkschaftsbund COB (Central Obrera Boliviana) kämpft um die Erhöhung des Mindestlohns (welcher gerade einmal 90 Euro im Monat beträgt) und die Beschäftigten des Gesundheitswesens gehen gegen das Dekret 1126 auf die Straße (welches die Arbeitszeit aller Beschäftigten von sechs auf acht Stunden erhöht, und damit die Schichten von vier auf drei reduziert, ohne den ArbeiterInnen jedoch nur einen Cent mehr zu zahlen).

Die Druckmittel der Protestierenden, vor allem des Gesundheitswesens, haben sich im Laufe der Proteste deutlich verschärft. Der einfache Streik weitete sich schnell zu einem massiven Hungerstreik aus. Zeitweise befanden sich landesweit mehr als 1.200 KrankenpflegerInnen, ÄrztInnen und StudentInnen im Hungerstreik. Die Protestierenden schrieben Schilder mit ihrem eigenen Blut, einige StudentInnen und Lehrkräfte ließen sich ohne Essen und Trinken in der Universität einmauern und die letzte Woche der Proteste war von harten Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und der Polizei geprägt. StudentInnen griffen die Polizei mit Steinen, Feuerwerkskörpern und selbstgebastelten Nagelbomben an. MinenarbeiterInnen erwiderten die Polizeirepressionen mit Dynamit. Die Polizei setzte massiv Tränengas und Gummigeschosse ein, und in einem Fall, wie Menschenrechtsorganisationen und der „Defensor del Pueblo“ (der „Volksverteidiger“, eine Regierungsorganisation zum Schutz der Menschenrechte) bestätigen, folterten sie eine Krankenschwester. Etliche DemonstrantInnen wurden durch Steine, welche die Polizei auf DemonstrantInnen warf, Gasgranaten, welche die Polizei nicht in die Luft, sondern gezielt auf die Demonstranten schoss, und Gummigeschosse zum Teil schwer verletzt.

Die Regierungspartei „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) verurteilte die Gewalt und die Proteste scharf und zeigt sich verständnislos gegenüber den Forderungen der Beschäftigten des Gesundheitswesens. Viele Abgeordnete und BasisaktivistInnen der MAS unterstellen den MedizinerInnen, nur aus Faulheit keine acht Stunden arbeiten zu wollen und sich gegen die nationalen Interessen des Volkes für eine bessere Gesundheitsversorgung einzusetzen. Desweiteren behaupteten sie, dass die ÄrztInnen diesen Streik nur führen würden, um weiterhin neben ihrer Arbeit in öffentlichen Krankenhäusern in wesentlich lukrativeren Privatkliniken und Praxen arbeiten zu können. Die rechte Opposition sei verantwortlich für die Proteste, deren „einziger Sinn die Schwächung der ”šRegierung des Wechsels‘ ist“, verkündete der bolivianische Präsident Evo Morales mehrfach im letzten Monat.

Doch was genau passiert in Bolivien? Rechte Erhebung oder Widerstand der Bevölkerung gegen die neoliberalen Reformen der Morales-Regierung?

Unter den MedizinstudentInnen der staatlichen Universität von La Paz (UMSA) hat rechtes und rassistisches Gedankengut viel Einfluss, vor allem unter den gewählten VertreterInnen. „Morales hat ein Gesetzt verabschiedet, welches den maximalen Lohn auf den Lohn des Präsidenten beschränkt (2200 Euro – 40% der Bevölkerung verdienen weniger als 90 Euro im Monat), und wir dürfen nur noch zwei Häuser und Autos haben“, erzählte mir ein Anfang 40jähriger Medizinstudent. StudentInnen verbrannten kubanische Fahnen, beleidigten den Präsidenten als „Indio“ und behaupteten, dass er lediglich ein Präsident der Landbevölkerung sei. Ein anderer Student meinte: „Er will Bolivien zu einem zweiten Kuba machen. Alle gleich machen. Doch wir sind nicht das Gleiche wie eine Putze!“

Doch die „Gleichmacherei“ hat seine Grenzen. Die Oberschicht verdient mit ihren Agrar-, Bergbau-, Gas-/Erdölunternehmen weiterhin wesentlich mehr als der Präsident. Vor einem Monat brachte die Regierung Evo Morales auf Druck des UnternehmerInnenverbandes ein Gesetz zum Schutz von Investitionen von ausländischen Konzernen auf den Weg. Und die Regierung greift immer offener die Interessen der ArbeiterInnen und Indigenen an.

Zum Beispiel mit dem Dekret 1126, welches letzten Dezember auf einem großen „Gipfel der sozialen Bewegungen“ auf den Weg gebracht wurde. Doch dieser Gipfel setzte sich neben einigen VertreterInnen des Gesundheitswesens und der Regierung aus ArbeitgeberInnenverbänden und vor allem AnhängerInnen der MAS zusammen. Zur lösung des Problems der Krankenversorgung beschloss dieser Gipfel, die Arbeitszeit für alle Beschäftigten des Gesundheitswesens um zwei Stunden zu erhöhen, ohne jedoch für einen Lohnausgleich zu sorgen.

Eine Revolution im bolivianischen Gesundheitssystem ist dringend notwendig. Der Großteil der BolivianerInnen hat keine Krankenversicherung und muss auch in den staatlichen Krankenhäusern 100% der Behandlungskosten selbst tragen. Der Staat bezahlt lediglich die Schwangerenbehandlung, Kinderimpfungen und die Behandlung einfacher Kinderkrankheiten wie Grippe. Lediglich die Oberschicht kann sich in Bolivien eine gute Gesundheitsversorgung leisten.

Die ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen kritisierten die mangelnden Investitionen in das Gesundheitswesen. Es gibt z.B. in keinem staatlichen Krankenhaus Boliviens ein MRT-Gerät. Die Krankenhäuser sind mit veralteten Gerätschaften ausgestattet, es fehlt an Fachpersonal und oft auch an Medikamenten. „Durch eine reine Erhöhung der Arbeitszeit wird die Regierung dieses Problem nicht lösen“, erzählt die Zahnärztin Ustcerez Jacky.

Während die Mehrzahl der Ärzteschaft aus Angst, ihren Tätigkeiten in privaten Praxen nicht mehr nachgehen zu können, die acht Stunden kategorisch ablehnen, fordern die KrankenpflegerInnen in Sprechchören und auf Schildern „Acht Stunden, ja! Allgemeines Arbeitsgesetz, ja!“ Die Angestellten der staatlichen Gesundheitssystems sind in Bolivien vom allgemeinen Arbeitsgesetz ausgeschlossen und bekommen keine Zuschläge für Nachtarbeit und Arbeit an Feiertagen.

Statt in das Gesundheitssystem zu investieren, steckt die Regierung das Geld in die staatlichen Repressionsorgane. 2011 gab der bolivianische Staat 26% seines Haushaltes für das Militär aus – wesentlich mehr als für Gesundheit und Bildung zusammen. Damit stiegen die Militärausgaben in den letzten zehn Jahren um 125%. Da Morales nie die Intention verfolgte, die Macht des Militärs – Grundpfeiler des bürgerlichen Staates – einzuschränken oder durch Milizen der ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnen zu ersetzen, erkauft er sich deren Loyalität mit der massiven Steigerung der Militärausgaben.

Gegen diese Angriffe und gegen den faulen Kompromissvorschlag der Regierung, das Problem des Dekretes 1126 auf einem Gipfel unter Beteiligung der sozialen Bewegungen der MAS zu lösen, organisierte die COB vom 9. bis 11. Mai einen landesweiten Streik, welcher den Transport zeitweise zum Erliegen brachte. Kilometerlang zogen sich die Demos über die Hügel von La Paz und an allen drei Protesttagen kam es zu harten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemonstrantInnen, da diese versuchten, auf den Platz vor dem Präsidentenpalast zu gelangen. Die MinenarbeiterInnen beantworteten die Angriffe der Polizei, welche Gummigeschosse und Gasgranaten auf die Körper der DemonstrantInnen schoss, mit Dynamit. Bei den Auseinandersetzungen zwischen DemonstrantInnen und Polizei wurden knapp 20 Personen (davon fünf Polizisten) zum Teil schwer verletzt.

Doch in den Morgenstunden des 22. Mais unterzeichnete die COB nach 49 Tagen Streik im Gesundheitswesen einen Kompromiss mit der Regierung, welcher die Streiks beenden und die Probleme auf den für Ende Juli angesetzten „Gipfel zur Revolution des Gesundheitswesens“ vertagen soll. Das Dekret 1126 wurde bis zum Gipfel aufgehoben. Die während des Streiks entlassenen GewerkschafterInnen wurden wieder eingestellt, die Regierung versprach, die GewerkschafterInnen und StudentInnen nicht juristisch zu verfolgen. Doch dieser Kompromiss ist beinahe identisch mit dem Vorschlag der Regierung, gegen den die COB den dreitägigen Streik führte. Diesen Kompromiss unterzeichnete der Vorstand der COB lediglich drei Tage vor einer einberufenen Basisversammlung der COB, auf der die Fortsetzung der Kämpfe diskutiert werden sollte. Einen Tag nach der Unterzeichnung des Kompromisses beschlossen die BürokratInnen der COB, die Basis von diesem, für das Wochenende angesetzten, „ArbeiterInnengipfel“ auszuschließen und lediglich hohe GewerkschaftsfunktionärInnen einzuladen.

Doch an der Basis regt sich Widerstand gegen den von der COB, der ÄrztInnengewerkschaft und StudierendenvertreterInnen unterzeichneten Kompromiss. Eine Krankenschwester beschwert sich: „An dem Gipfel beteiligen sich nicht nur die Regierung und Gewerkschaften, sondern auch massive Teile ‘sozialer Bewegungen’, die der MAS nahe stehen, wie z.B. die Nachbarschaftsverbände und Kokabauer/bäuerinnengewerkschaften. Die Regierung wird versuchen, massiv ihre Basis zu diesem Gipfel zu mobilisieren, um uns zu überstimmen.“

Der Dozent an der Gewerkschaftlichen Universität Siglo XX und Mitglied der Gruppe LOR-CI (Trotzkistische Fraktion – Vierte Internationale, FT-CI) Javo Ferreira sieht in der Unterzeichnung einen Verrat der Führung an ihrer Basis. „Eine weitere Woche der Proteste und die Regierung wäre so viel Druck ausgesetzt gewesen, dass sie das Dekret 1126 bedingungslos zurücknehmen hätten müssen. Doch die MAS-treuen Kräfte trieben diese Entscheidung voran, damit die MAS nicht als Verlierer aus diesem Konflikt hervorgeht“, beurteilt er die Situation. Seit der Unterzeichnung des Kompromisses im Gesundheitswesen spricht die COB von dem Kampf um die Anhebung des Mindestlohns kein Wort. Die BergarbeiterInnengewerkschaft FSTMB hat ihre Unterstützung für den IX. Marsch für den TIPNIS zurückgezogen, da diese die Einhaltung der Befragung betroffener indigener Kommunen über Neuvergabe von Förderrechten anmahnen. Doch selbst einige linksradikale GewerkschaftssekretärInnen und -sektoren betreiben unverantwortliche Politik. Die größte außerhalb der MAS gebliebene linksradikale, trotzkistische Partei POR versuchte z.B. alle sich im Kampf befindenden Sektoren gegen die Regierung zu vereinigen, ohne deren zum Teil reaktionäre Forderungen und politische Positionen anzugreifen (wie z.B. die der kleinbürgerlichen Transportgewerkschaften, die für höhere Tarife und weniger staatliche Kontrolle über den Transport eintreten, oder die rechten und teils rassistischen Hetzen der AnführerInnen der Ärztegewerkschaften gegen KubanerInnen und zum Teil gegen Indigene AnführerInnen, welche eine Regierung der Oberschicht fordern).

Die Gründe für die neoliberalen Angriffe der Morales-Regierung, welche 2008 mit der alten Rechten und der besitzenden Klasse ein Bündnis eingegangen ist und vielen PolitikerInnen der klassischen Rechten die Tore in die MAS geöffnet hat, erklärt Javo Ferreira so: „Die Angriffe Morales‘ auf die ArbeiterInnenklasse, die wir heute im Gesundheitssektor beobachten können, sind vor allem Präventivmaßnahmen. Wenn durch die sich in Europa anbahnende Rezession die Rohstoffpreise fallen, wird die Regierung durch den Einbruch der Steuereinnahmen in ernste finanzielle Probleme geraten. Die Regierung hat weder eine Industrialisierung des Landes vorangetrieben, noch die Eigentumsformen angerührt. Deshalb probiert sie heute, die Staatsausgaben zu senken.“

Morales gerät durch seine arbeitInnenfeindliche Politik immer offensichtlicher in Widerspruch mit seiner Basis. Die Volksfrontregierung der MAS bleibt eine Regierung der Bourgeoisie und stellt am Ende deren Interessen über die Interessen der Indigenen und ArbeiterInnen. Der russische Revolutionär Leo Trotzki beschrieb die historische Aufgabe der Volksfront darin, den Kapitalismus zu retten, indem sie, ohne die Notwendigkeit eines BürgerInnenkriegs, die Revolution (Machtergreifung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen) verhindert.

Die besondere Situation in Bolivien ist, dass fast alle linken Parteien und Gruppen in der Volksfront der MAS aufgegangen sind und daher keine organisierte linke Opposition zur MAS existiert. In Bolivien existiert keine Partei, welche heute der MAS entgegentreten könnte. Die konservativen Parteien stellen zwar den Bürgermeister der zwei größten Städte Boliviens – Santa Cruz und La Paz – doch auf nationaler Ebene haben sie keinen Einfluss und der Großteil der Bourgeoisie unterstützt momentan noch die Politik der MAS. Um eine revolutionäre Perspektive voranzubringen, muss eine linke Alternative zur Volksfrontregierung der MAS geschaffen werden, die in der Lage ist, die durch die Widersprüche der MAS entstehende Unzufriedenheit zu kanalisieren und in eine klassenkämpferische Richtung zu entwickeln.

Am 19. Mai 2012 hat die Generalversammlung der COB zum wiederholten mal – gegen den Widerstand stalinistischer, MASistischer- und der POR nahe stehenden SekretärInnen – die Bildung eines politischen Armes des Gewerkschaftsbundes beschlossen. Auch wenn dieses „Politische Instrument“ in seinem ersten Moment kein klares revolutionäres Programm haben wird und BürokratInnen es kontrollieren und lähmen werden, könnte das Politische Instrument der COB eine ArbeiterInnenpartei mit fortschrittlicher Sprache werden und der MAS eine ernstzunehmende, klassenkämpferische Opposition von Links bieten.

2003 beschloss die COB das erste mal die Bildung eines Politischen Instruments, doch seit dem Wahlsieg der MAS haben deren SekretärInnen die Umsetzung diese Beschlusses immer wieder bewusst verschleppt. Um deren Umsetzung zu erreichen, müssen die revolutionären ArbeiterInnen den Druck von der Basis auf den Vorstand der COB erhöhen. Die RevolutionärInnen müssen auf nationaler und internationaler Ebene Morales’ Politik der Klassenkollaboration angreifen und für eine klassenkämpferische Politik, welche die ArbeiterInnenklasse von Diktat der Bourgeoisie befreien kann, eintreten.

 

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