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Mexico

Mexiko: Ein Staat am Abgrund

21/12/2014

Mexiko: Ein Staat am Abgrund

// Das Verschwinden von 43 Lehramtsstudierenden aus dem Bundesstaat Guerrero und die darauffolgenden massiven Jugendproteste markieren ein Vorher und Nachher in der mexikanischen Gesellschaft. Sie bringen das grausame Gesicht des halbkolonialen Kapitalismus und den Zerfall eines Staates ans Tageslicht. //

Am 26. Dezember werden es drei Monate sein, die die mexikanische Bevölkerung nun schon auf ein Lebenszeichen der 43 verschwundenen LehramtsstudentInnen aus Ayotzinapa wartet. Doch sie wartet nicht einfach. Mit einem Generalstreik demonstrierten am 20. November eine halbe Million Menschen in der mexikanischen Hauptstadt und setzten eine riesige Figur des Präsidenten Enrique Peña Nieto auf dem zentralen Platz in Brand. War in den ersten Wochen der Bewegung der zentrale Schlachtruf noch „Lebendig wurden sie uns genommen, lebendig wollen wir sie wieder haben!“, erschallen nun aus dem ganzen Land die Rufe: „Es war der Staat!“ und „Peña Nieto soll gehen!“. Hinter dem Verschwinden der 43 steckt ein von Drogenkrieg, Frauenmorden, Korruption und imperialistischer Unterwerfung bewegtes Mexiko.

Die politische Krise wächst im Rhythmus der Bewegung

Deshalb lässt die Welle der Proteste weiterhin nicht nach, sondern breitet sich immer weiter aus. Zuerst waren es die Angehörigen und die KommilitonInnen aus Ayotzinapa, die sich auf die Suche nach ihren FreundInnen begaben und dabei ein Meer an Gräbern rund um Iguala, der drittgrößten Stadt des Bundesstaates, fanden. Die LehrerInnen aus Guerrero, die eine kämpferische Tradition besitzen, beteiligten sich mit Straßenblockaden an den Protesten und setzten das Parlament des Bundesstaates in Brand. Bauern und Bäuerinnen, gemeinsam mit Studierenden, nahmen die Straßen des gesamten Landes in ihre Hand. Wie bei den letzten globalen Aktionstagen für Ayotzinapa am 20. November und am 1. Dezember protestierten Hunderttausende in Mexiko-Stadt gegen die Regierung, wobei diese stärker von den Mittelschichten geprägt waren. Ìberall auf der Welt gab es Solidaritätsaktionen: von den Studierenden in Chile und Frankreich über KünstlerInnen wie die Band Massive Attack bis hin zur Kundgebung der PTS in Argentinien mit mehr als 6.000 TeilnehmerInnen.

Die Bewegung setzte die Regierung unter Druck. Peña Nieto fuhr dennoch mit seiner Asienreise fort, aber militarisierte zur gleichen Zeit zahlreiche Bundesstaaten, vor allem Guerrero. Die Untersuchungskommission, die von der Regierung eingesetzt wurde, verkündete mehrmals, die Leichen der Studierenden gefunden zu haben. Dies beruhigte die Massen jedoch keineswegs, da sie schon lange nicht mehr in die Regierung und die Institutionen des Staates vertrauen. Die zentralen Parteien – die Partei der institutionellen Revolution (PRI), die Partei der Nationalen Aktion (PAN) und die Partei der demokratischen Revolution (PRD) – sind alle mit der Korruption und dem Drogenhandel verbunden und werden nun infrage gestellt. Das Regime, das in den 1990er Jahren aus der Krise der 70-jährigen bonapartistischen Einparteiendiktatur der PRI hervorging, steckt nun seinerseits in einer tiefen Krise. Zu Beginn der Regierung von Peña Nieto startete das Triumvirat aus PRI-PAN-PRD mit dem „Pakt für Mexiko“ einen Generalangriff auf die Lebensbedingungen der Massen, was sich in einer Bildungsreform und der Privatisierung des staatlichen Ölkonzerns Pemex ausdrückte.
Doch lange konnte diese reaktionäre Offensive, die einen neuen Zyklus der Unterwerfung Mexikos unter den US-Imperialismus und die Schwächung der kämpferischen Sektoren der ArbeiterInnenbewegung und der Jugend zum Ziel hatte, nicht anhalten. Das Regime von PRI-PAN-PRD befindet sich in einer Hegemoniekrise, einem Bruch zwischen RepräsentantInnen und Repräsentierten, in der weder die traditionelle Politik der Bourgeoisie einfach so weitergeführt werden kann, noch autoritäre Maßnahmen ausreichen, die Hunderttausenden von den Straßen zu holen. Damit ist die Grenze, an die die demokratische Jugendbewegung #yosoy132 im Jahr 2012 stieß, schon weit überwunden. Doch auch im Vergleich zum Jahr 2006, wo sich nach dem Wahlbetrug gegen den Oppositionskandidaten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) eine demokratische Bewegung im ganzen Land entfachte und im selben Jahr die „Kommune von Oaxaca“ gebildet wurde, hat sich die Situation verschärft: Die PRD, die einst als ein Bruch aus der PRI um Cuauhtémoc Cárdenas hervorging, hat ihre Rolle als Oppositionspartei verloren und stellt keine Alternative mehr für die Massen dar. Mehr noch, sie wird als das wahrgenommen, was sie ist – die linke Hand eines mörderischen Regimes, die funktional für die Interessen des Imperialismus und der mexikanischen Bourgeoisie ist. Das stürzt sie, wie alle anderen Parteien auch, in eine tiefe Krise.

Imperialistische Offensive und das Massengrab Mexiko

Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) wurde am 1. Januar 1994 unterzeichnet und eröffnete eine besondere Periode der „ungleichen und kombinierten Entwicklung“ (Trotzki) in Mexiko. Seitdem erlebte das Land, das 3.200 Kilometer Grenzgebiet mit der größten imperialistischen Macht der Welt teilt, zwei Jahrzehnte brutalster Unterwerfung unter die Diktate Washingtons. Dies verschärfte sich nur durch den Aufstieg der PAN zur Regierungspartei im Jahre 2000 und drückte sich in der Militarisierung des Landes unter dem Deckmantel der „Bekämpfung der Drogenkartelle“ aus. Das wirtschaftliche Modell Mexikos besteht aus dem Export von Arbeitskraft (ImmigrantInnen), Rohstoffen (Öl) und in Sweatshops produzierten billigen Verkaufswaren und einem enormen Kapitalstrom aus den USA sowie ganzer Zweige der „illegalen Industrie“ wie Prostitution, Verschleppung und Drogenhandel. Letzterer basiert auf der Ìberausbeutung der mexikanischen ArbeiterInnen im Norden, deren löhne mit denen in China konkurrieren und bringt eine Reihe sozialer Phänomene mit sich. Tausende Frauen sind in den letzten Jahren Opfer von Verschleppung, Vergewaltigung und Mord geworden. Zahlreich sind die Fälle, in denen soziale AktivistInnen verschwinden und wenig später Tod aufgefunden werden, nicht selten nach schwerer Folter.

Die größte und bekannteste Erscheinungsform, mit dem alle vorhergehenden Beispiele verbunden sind, ist der narcotráfico, der Drogenhandel. Die Kartelle, welche wie multinationale Konzerne agieren, profitieren von den Drogenverboten um ihr Geld zu machen, das sie dann in „legales“ Kapital umwandeln. Laut verschiedener Studien bringt der Drogenhandel jährlich zwischen 19 und 40 Milliarden US-Dollar nach Mexiko und ist damit vor dem Ölgeschäft der größte Devisenbeschaffer (El naufragio del Estado mexicano, Rafael Barajas/ Pedro Miguel, Le monde diplomatique 186). Mit dieser enormen Macht können sie ganze Bundesstaaten kontrollieren, in denen sie Aufgaben des bürgerlichen Staates wie öffentliche Dienste oder das Gewaltmonopol übernehmen. Diese Ausmaße der Zersetzung des mexikanischen Staates und der Verschmelzung der bürgerlichen Parteien mit dem Drogenhandel lassen viele AktivistInnen und Intellektuelle von einem Narco-Staat sprechen.

Diese Situation ist Folge der Politik der Unterwerfung und Militarisierung des US-Imperialismus, der zur gleichen Zeit eine besondere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit den Kartellen besitzt. Schon in den 1970er Jahren begann der „Kampf gegen die Drogen“ unter der PRI-Diktatur gemeinsam mit dem US-Plan Kondor. In den 00er Jahren diktierten die US-Drogenbehörde DEA und die CIA die Politik der mexikanischen Regierung, wie es die „Initiative Mérida“ deutlich macht. Der von dem PAN-Präsidenten begonnene „Krieg gegen die Drogen“ zählt bis heute 160.000 Tote und mehr als 20.000 Verschwundene.

Sozialismus oder Barbarei

Doch widersprüchlicherweise schafft genau dieses Bündnis, das den mexikanischen Staat zerlöchert, die Grundlage für dieses mörderische Regime. Die in den letzten zehn Jahren rapide wachsenden Mittelschichten profitieren von den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Mexiko und den USA. Gerade deshalb ist eine antiimperialistische Perspektive innerhalb der aktuellen Bewegung gegen die Regierung wenig verbreitet. Was vorherrscht, ist viel mehr die Vorstellung, dass ohne die bizarrsten Ausdrücke der Gewalt Mexiko noch umfangreichere Verträge mit dem Imperialismus aushandeln könnte.

Die aktuellen Massenbewegungen sind in ihrer Massivität und Radikalität unzureichend, die anti-demokratische und pro-imperialistische Regierung von Peña Nieto zu stürzen. Das Fehlen der ArbeiterInnenbewegung und die Krise der politischen Führung machen es für die Bourgeoisie möglich, eine lösung auf die Krise zu finden, auch wenn dies tiefgreifende, wenn auch nicht grundlegende Zugeständnisse nötig macht. Dennoch ist es aktuell schwierig ist, den Prozess als ganzes zu schließen.
Die strukturellen Reformen der letzten Jahre zeigen jetzt schon Auswirkungen bei der Mehrheit der Bevölkerung. Das niedrige Wachstum, die stockende Wirtschaft und der sinkende Ölpreis, der zu einer Entwertung des mexikanischen Pesos geführt hat, bergen die Möglichkeit, dass auch die ArbeiterInnenklasse auf die Straße tritt. Dies ist der Schlüssel für den Erfolg der aktuellen Bewegung, die sich weiter ausweiten muss und auch die Arbeitsplätze und Fabriken des mittelamerikanischen Landes erreichen muss.

Das unreformierbare Regime der bürgerlichen Parteien, des Drogenhandels und der Multinationalen kann nur durch einen politischen Generalstreik gestützt werden, der eine provisorische Regierung aller Organisationen der ArbeiterInnen und unterdrückten Massen einsetzt, die zu einer freien und souveränen Volksversammlung einberuft. Auf dieser können alle dringenden Themen der Bevölkerung wie die Militarisierung und Repression, die Unterdrückung durch den Imperialismus und die Legalisierung der Drogen, um den Kartellen den Markt zu rauben, besprochen werden. Die materielle Kraft, mit dem Imperialismus und der einheimischen Bourgeoisie zu brechen, besitzt hingegen nur eine ArbeiterInnenregierung, die auf der Massenmobilisierung und der Selbstverwaltung der ArbeiterInnen basiert. Für diese Perspektive kämpft die mexikanische Sektion der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale, die Bewegung Sozialistischer ArbeiterInnen (MTS), die vor kurzem als Landesweite Politische Gruppierung anerkannt wurde.

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