FT-CI

Gorleben und Stuttgart21:

Vorboten gesteigerter Klassenkampfauseinandersetzungen in Deutschland

05/01/2011

von Mark Turm Dezember 2010


Die Wirtschaftskrise und die von den Bourgeoisien und ihrer Regierungen getroffenen Maßnahmen zur Rettung von in Schwierigkeiten geratenen Banken und Großkonzernen auf Kosten der Lohnabhängigen und Armen haben zu drastischen Folgen in sozialer Hinsicht geführt, was zu einem schwindenden Konsens gegenüber den Maßnahmen der Bourgeoisie sowie zu einem Vertrauensverlust in die bürgerlich demokratischen Kontrollmechanismen und Institutionen geführt hat und führt. Die Legitimation von politischen Entscheidungen wird von immer mehr Menschen angezweifelt. Dies mündet zunehmend in direkte Aktionen, die sogar tendenziell den Parlamentarismus in Frage stellen, wie im Falle von Stuttgart 21 heute oder auch Hamburg im Schulstreit gestern sichtbar wurde. Die Krise der politischen Repräsentationsmechanismen und -institutionen wird im zunehmenden Protest deutlich. Und die Proteste beschleunigen die Legitimationskrise.

Das Regime in der Krise

Finanzkrise, Eurokrise und Verschuldung haben der Regierungskoalition arg zugesetzt, sie haben sie gelähmt. Nicht mal das als Befreiungsschlag gehandelte Sparpaket kann die Koalition stärken und ihr Ansehen verbessern. Nach dem Aus für Schwarz-Grün in Hamburg, das seinerseits als Vorzeigeprojekt gepriesen wurde, verdunkeln sich weiterhin die politischen Wolken am Horizont. Die permanenten Streitigkeiten innerhalb der Regierungskoalition sowie der Verfall der SPD, der Aufstieg der Grünen, die massenhaften Proteste gegen Stuttgart21 und das Wiedererwachen der Antiatombewegung sind politischer Ausdruck der sich aufgestauten und ungelösten strukturellen ökonomischen Ungleichgewichte. Der einzige Ausweg aus dieser Situation liegt in einer Neudefinition der Klassenbeziehungen, was naturgemäß enorme politische und soziale Umwälzungen nach sich ziehen wird. „Das Nachkriegsregime ist angesichts der objektiven Bedingungen des Kapitals in einer Ìbergangsphase, die letztendlich den ”šSozialstaat’ hinter sich lassen wird, vor allem im Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise und seit der ”šWiedervereinigung’ und der sich dadurch verändernden geopolitischen Lage Deutschlands innerhalb Europas in der kapitalistischen Restaurationsphase.“.

Die Antwort der herrschenden Klasse

Angesichts der sich verschärfenden Auseinandersetzungen steuert die herrschende Klasse der sich vertiefenden institutionellen Krise entgegen, indem sie versucht ihre Angriffe auf die Arbeit zu vertiefen und gleichzeitig ein Klima der Angst zu fabulieren. Dabei schürt sie diese Ängste, indem sie an vorhandene Vorurteile appelliert um die Notwendigkeit von mehr Repression zu legitimieren. Die wachsende Wut angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen wird also auf Sündenböcke gelenkt; Ausländerhass und Fremdenfeindlichkeit als Gegenmittel zum Klassenkampf. Deshalb werden in Deutschland MigrantInnen im Allgemeinen und Muslime insbesondere, wie im übrigen Europa auch, dafür verantwortlich gemacht auf Staatskosten zu leben und deshalb den sogenannten „Sozialstaat“ zu unterhöhlen, abzuschaffen. Dabei fällt dieser reaktionär rassistische und fremdenfeindliche Diskurs zum Teil auf fruchtbaren Boden. Jetzt schon stimmen mehr als 30 Prozent der Bevölkerung laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung der Einschätzung zu: „Ausländer kommen, um den Sozialstaat auszunutzen.“ Jeder dritte weiße Deutsche hält das Land für „überfremdet“, und jeder zehnte sehnt sich nach einem „Führer“: Eine ebenso großer Anteil meint, bei knappen Arbeitsplätzen „sollte man Ausländer wieder in ihre Heimat schicken“, und durch „die vielen Ausländer“ werde Deutschland „in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Die fremdenfeindliche Angstschürerei äußert sich in einer groß angelegten ideologischen Offensive der herrschenden Klasse. Sie zielt darauf ab, die Bevölkerung auf die Notwendigkeit von mehr Repression vorzubereiten, um angebliche Gefahren vorzubeugen und sie abzuwehren, und so neue Repressionsmaßnahmen zu legitimieren. Heute richtet sich dies vor allem gegen MigrantInnen, allen voran Muslime. Die Terrorismuskeule wird aber auch gegen die linke Avantgarde geschwungen (so wurde Ende 2003 von der rot-grünen Bundesregierung der Paragraph 129a verschärft und unter anderem auf ausländische Organisationen und auch Straftaten wie etwa Brandstiftung erweitert) und angewandt. Schließlich wird die Repression gegen die Arbeiterbewegung folgen.

Radikalisierung der Mittelschichten

Der Konsensverlust gegenüber den Maßnahmen der Bourgeoisie drückt sich auch in Radikalisierungstendenzen der Mittelklassen aus, was von Teilen der herrschenden Klasse und der bürgerlichen Presse mit zunehmender Sorge beobachtet wird. Denn bei den Sektoren, die heute auf die Straße gehen, handelt es sich um die Mittelschichten, die zu Recht befürchten, den hart erarbeiteten sozialen Aufstieg nicht mehr halten zu können. Für sie ist die Verarmungswahrscheinlichkeit nicht mehr fern und hypothetisch, sondern zum Greifen nahe, also bittere Realität geworden. DIW-Experte Martin Gornig nennt die Entwicklung besorgniserregend, denn auch sie erkennen, dass „eine starke Mittelschicht wichtig ist, für den Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität.“ Wie die Dauer, Breite und Radikalität der aktuellen Proteste zeigt, handelt es sich um weitaus mehr als um die üblichen, stark ritualisierten und folkloristischen Demonstrationen der Vergangenheit. Es handelt sich eher um den Beginn eines Prozesses politischer Radikalisierung und zunehmend gewaltsamer Konfliktlösung.
Somit können die Proteste um Stuttgart21 und im Wendland als die Fortsetzung der Mobilisierungen gegen die Agenda2010 und Hartz-IV betrachtet werden. Während damals jedoch die prekarisierten Sektoren des Proletariats auf die Straße gegangen sind, sind es heute vorwiegend Sektoren aus den Mittelklassen, die ihre Unzufriedenheit kundtun: Die studentischen Proteste vom vergangenen Jahr, Stuttgart21 und Gorleben sprechen dafür. Um es mit der bürgerlichen Presse zu sagen: „Die Regierung hat also Schläfer geweckt und eine neue Protestbewegung rekrutiert. Man kann gespannt sein, wie sie damit fertig werden will“ (Berliner Zeitung). In der Tat handelt es sich um eine neue Qualität des Protestes, der „einen fragilen Frieden gestört“ (Berliner Zeitung) hat.

Es wäre deshalb einen großen Fehler, die neuen Massendemonstrationen um Stuttgart21 und Gorleben, aber auch die versuchte „Erstürmung“ der CDU Parteizentrale in Berlin, die vor allem von Avantgardesektoren getragen wurde, als eine vorübergehende und typische Erscheinung des Protestes in Deutschland abzustempeln. Bei den neuen Protesten handelt es sich nicht mehr um Jahrzehnte alte politische Rituale von Umweltschützern, „Naturromantikern“ oder „Berufsdemonstranten“. Wie so mancher scharfsinniger dem Kapital dienlicher Journalist erkennt, „entwickelt der Protest eine neue ”šQualität’. Ìberraschend und beunruhigend ist die Vehemenz, ja Militanz des zivilen Ungehorsams – so wenn Brandsätze auf Einsatzfahrzeuge der Polizei fliegen. Wohl gab es schon immer gewaltbereite Trittbrettfahrer, die jeden Vorwand nutzen, um Krawall zu machen, und auch nicht vor Gewalt gegen Menschen, in diesem Fall Polizisten, zurückschrecken. Vor allem aber ist in Deutschland eine außerparlamentarische ”šProtest-Kultur’ im Entstehen, die sich gegen ebenso einsame wie einseitig empfundene Politikerentscheidungen wendet und empört. ”šStuttgart 21’ war der Auftakt und hat Spuren hinterlassen. Darin liegt der eigentliche ”šSuper-GAU’ für die Politik.“ (Luxemburger Wort, 08.11.10).

Die Wut der Beschäftigten wächst ebenfalls

Gerade die letzten Streikwellen in ländern Europas wie Griechenland, Frankreich oder Spanien (siehe dazu Artikel in dieser Ausgabe) haben deutlich gemacht, dass in diesen zentralen imperialistischen Staaten, die Sparmaßnahmen der Bourgeoisien nicht willenlos von der Arbeiterklasse und der Jugend hingenommen werden. Wenn auch das Ausmaß des direkten Klassenkampfes in Deutschland sehr schwach ist, so ist doch die Reaktion der Bevölkerung auf die von der Bundesregierung unterstützten Projekte wie Stuttgart21 sowie die Verlängerung der Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke ein Vorbote gesteigerter sozialer Konflikte, bei denen die ArbeiterInnenklasse sich mit ihren eigenen Forderungen und Methoden melden wird. Denn angesichts der sich anbahnenden neuen Kürzungen im sozialen Bereich und der somit massiven Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für die großen Massen wird auch hier zu Lande die direkte Auseinandersetzung zwischen den Klassen nicht ausbleiben.
Die Tatsache, dass bislang eine Antwort seitens der Lohnabhängigen ausgeblieben ist, hängt überwiegend damit zusammen, dass obwohl ihre Wut wächst, sie immer noch sehr effektiv von der Gewerkschaftsbürokratie durch die unsägliche Politik der Sozialpartnerschaft kontrolliert - verraten - werden, was wiederum auf der Basis des vorübergehenden eingetretenen wirtschaftlichen Aufschwungs möglich ist (Siehe Artikel in diesem Heft). Die Teilnahme an der DGB-Herbstaktion vom 13. November gegen das Sparpaket, das Ende November im Bundestag verabschiedet wurde, fiel auch deshalb so gering aus, weil der, von den Gewerkschaftsspitzen angekündigte „heißer Herbst“ nichts als leere Rhetorik war und ist. So ist dieser Aktionstag als eine Art Ventil anzusehen. Die Gewerkschaftsbürokratie ruft zu einer isolierten Aktion auf, um den steigenden Druck von der Basis abzulassen und sich nebenbei noch als kämpferisch, (zumindest was Gesten angeht - wie die von Bsirske an die Bundesregierung gezeigten Mittelfinger) zu präsentieren. An der DGB-Herbstaktion der Gewerkschaften beteiligten sich deshalb lediglich etwas mehr als 100.000 Menschen in mehreren Städten, die größte nicht zufällig in Stuttgart mit ca. 50.000 Demonstranten. Im Vorfeld gab es jedoch zahlreiche Betriebsversammlungen und betrieblichen Aktionen, an denen über eine Million Menschen teilnahmen, was auf eine wachsende Unzufriedenheit an der gewerkschaftlichen Basis hindeutet, und sich angesichts der sich anbahnenden Verschärfung der Krise entladen kann.

Intervention um fortschrittliche Sektoren für das revolutionäre Programm zu gewinnen

Die von der herrschenden Klasse diktierten Maßnahmen, wie der Fall vom Bau des Stuttgarter Bahnhofes oder die Verlängerung der Laufzeit für Atomkraftwerke, haben den Protestbewegungen neues Leben eingehaucht. Dabei gewinnt das Politische, wie in jede Sitzblockade, Demonstrationszug und Streik zu beobachten ist, zunehmend an Bedeutung: „Der Profit bei Banken und Baukonzernen ist für ein Drittel eine Protestursache. Weniger dagegen werden Umweltschutzgründe genannt oder der Denkmalschutz oder geologische Gefahren des Tunnelbaus.“ (Der Tagesspiegel) in Stuttgart, die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke und die weitere Erkundung des Salzstocks Gorleben als Endlager im Wendland, und weniger der Transport von Brennelementen.
Dabei handelt es sich um progressive Massenbewegungen, deren Begrenztheit darin liegt, sich lediglich auf die Bekämpfung der Auswirkungen und sich nicht gegen den Verursacher richtet: Der Kapitalismus.

Nun geht es für Revolutionäre darum, in diesen Prozessen mit einem klaren Programm zu intervenieren, der ausgehend von den demokratischen unmittelbaren Forderungen eine Brücke zu den historischen Aufgaben des Proletariats schlägt. Es wäre fatal bei den aufflammenden Kämpfen den Grünen und den kleinbürgerlichen Kräften die politische Führung zu überlassen. Anstatt dessen bedarf es eines klaren Interventionsprogramms, das die Notwendigkeit des Kampfes nicht nur gegen gewisse Manifestationen der kapitalistischen Produktionsweise sondern gegen das Kapital in seiner Gesamtheit auf die Tagesordnung setzt. Damit wird das gemeinsame Vorgehen der Mittelklassen mit dem Proletariat notwendig, wenn das Proletariat diese Kämpfe nicht unter seiner Führung agitiert und kämpft, dann überlässt man die Mittelklassen der zersetzenden ideologischen Offensive der Bourgeoisie, die heute alles daran setzt die Klassenfrage durch die „Rassenfrage“ zu ersetzen. Diese Sektoren, werden sich von ihren „unfähigen“ Führungen, wie heute die Grünen, enttäuscht abwenden und wieder in die Arme der FDP und der CDU fallen oder sogar zu rechtsradikalen Parteien überlaufen.

Jedoch ohne die Mittelschichten kann das Proletariat keine Revolution bewerkstelligen, und deshalb müssen Revolutionäre die Mittelschichten für eine revolutionäre Politik gewinnen. Dies kann aber nicht geschehen, ohne nicht ihre jetzigen Führungen zu entlarven und zu bekämpfen. Zurzeit sind unter den Stuttgart-21- Gegnern und Anti-Atom-Bewegung die Grünen so etwas wie die letzte Hoffnung. Wie aber die Erfahrung zeigt, wenn die Grünen Regierungsverantwortung übernehmen, müssen und wollen sie sich (wie im übrigen alle anderen Parteien - siehe Die LINKE in Berlin und Brandenburg) den kapitalistischen Sachzwänge unterwerfen. Als die Grünen mit der SPD regierten, hat es auch Castor-Transporte gegeben. 2001 rief Jürgen Trittin auf, auf Demonstrationen zu verzichten, da es den Beschluss zum Atomausstieg gegeben habe.

Es gilt also einen Kampfplan aufzustellen, der die verschiedenen Kämpfe miteinander verbindet und somit versucht eine Perspektive jenseits des Kapitalismus aufzuzeigen. Die Forderungen und Mobilisierungen der verschiedenen Sektoren müssen gebündelt werden. Es muss eine Verbindung zwischen der Anti-Krisenbündnisse, der Anti-Atom-Bewegung, Stuttgart21-Gegnern und dem allmählich entstehenden antibürokratischen Kampf in den Gewerkschaften zu einer gemeinsamen Front geschaffen werden.

Die anstehenden Angriffe wie das Sparpaket, die Rente mit 67 oder die Kopfpauschale sind die Kehrseite der Verlängerung der AKW-Laufzeiten und dem Bau von Prestigeobjekten wie im Falle von Stuttgart21. Der Kampf gegen Hartz IV, Leiharbeit, für einen Mindesteinkommen für alle Erwerbslosen, RentnerInnen, SchülerInnen ab 16 und Studierende, muss mit der Forderung nach der Verteilung der Arbeit auf alle vorhanden Kräfte auf Kosten der Kapitalisten gebündelt werden!

Weg mit Hartz-IV
Weg mit der Rente mit 67!
Weg mit dem Sparpaket!
Nieder mit allen Antiterrorgesetzen!
Die Kapitalisten sollen für die Krise zahlen!

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