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Deutschland

Nach dem Aufschwung folgt der tiefe Fall

05/01/2011

Von Mark Turm 12. Dezember 2010


In den bürgerlichen Medien häufen sich die Analysen über die überraschend starke Entwicklung der deutschen Wirtschaft nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Das BIP wächst wieder wie seit der Wiedervereinigung nicht gesehen. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) sprach angesichts der sehr guten Zahlen für das zweite Quartal sogar von einem „Aufschwung XL“. Dabei wird natürlich gern verschwiegen, dass dem deutlichen Wachstum ein noch deutlicherer Wirtschaftseinbruch von knapp fünf Prozent im Vorjahr vorausging. Die Gründe für die Erholung, wie auch viele bürgerliche Analysten erkennen, sind im Wesentlichen folgende: Einerseits die wirtschaftliche Erholung der Weltwirtschaft, aufgrund der weltweit mehr oder weniger konzertierten Stütze des Bankensystems (also Rettungsmaßnahmen), sowie andererseits die stetigen Angriffe auf die Arbeit im Inland (Agenda2010, Hartz IV, Rente mit 67 usw.).

In diesem Artikel versuchen wir diese Faktoren und die Grenzen des konjunkturellen Wachstums, die wirtschaftlichen Perspektiven sowie die Gefahren und Angriffe, denen das deutsche und europäische Proletariat ausgesetzt ist, aufzuzeigen und die entsprechenden Aufgaben für Revolutionäre herauszustellen.

Erster Faktor: Die konjunkturelle Erholung des Weltmarktes

Einer der entscheidenden Faktoren für die konjunkturelle und in dem jetzigen Ausmaß unerwartete Erholung der deutschen Wirtschaft liegt vor allem in der vorübergehenden Erholung des Weltmarktes, die im wesentlichen durch die weltweiten Rettungsmaßnahmen ermöglicht wurde. Auffallend dabei ist die Tatsache, dass heute die klaren Wachstumstreiber Deutschlands abhängige Staaten und Halbkolonien wie China, Indien und Brasilien sind. „Die Ausfuhren nach China legten um 55,5 Prozent im Vergleich zu den ersten sechs Monaten 2009 zu, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Nach Brasilien lieferten die Firmen gut 61 Prozent mehr, in die Türkei knapp 39 Prozent mehr als vor der Krise. Damit hat China im ersten Halbjahr 2010 die Niederlande als Deutschlands größter Einfuhrpartner abgelöst.“[1] So ist der konjunktureller Aufschwung der deutschen Wirtschaft stark abhängig vom Wohlergehen des angeschlagenen Weltmarktes, insbesondere von der chinesischen Wirtschaft, die ihrerseits erstaunlich vom Weltmarkt abhängig ist und bedeutende interne Ungleichgewichte zeigt.[2] Ohne die Rolle Chinas und weiterer länder wie Brasilien oder Indien (die sog. BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China), die als Endabnehmer vieler Produkte aus Deutschland agieren, hätte Deutschland die Krise niemals so gut überstanden. Und darin liegt ein strukturelles Problem, denn Deutschland begibt sich so in gefährliche Abhängigkeit zu China[3], „Eine industrielle Symbiose (...), bei der die Chancen so gewaltig sind wie die Risiken und deren Sog sich kaum ein deutsches Unternehmen mehr entziehen kann“[4]. Jetzt schon bereitet der absehbare Abbau von Subventionen in China und Russland den bürgerlichen Ökonomen große Sorgen, denn „Chinas Autoboom wird auch getragen durch Prämien oder Steuererleichterungen der [chinesischen] Regierung. Diese Subventionen trieben den Markt so stark an, dass er die USA in diesem Jahr als den weltweit größten abloste.“[5] Es geht also die Angst um, dass die Rekord-Verkaufszahlen in China und Russland, von denen die deutsche Wirtschaft stark profitiert, bald der Vergangenheit angehören könnten. Der „unerwartet“ starke Exportrückgang deutscher Unternehmen ins Ausland vom Oktober (laut Statistischem Bundesamt der stärkste Rückgang seit einem halben Jahr) spricht schon dafür. Käme es zudem beispielsweise zu einem Kollaps auf dem Immobilienmarkt, oder eskalierte der Währungskrieg (Siehe Artikel „Eine neue Welle des Währungskrieges rollt an“) – eine sehr wahrscheinliche Aussicht nach der 600 Mrd. Dollar schweren Geldspritze der Notenbank Fed für die angeschlagene US-Wirtschaft – oder scheiterte der zurzeit angeschlagener Euro, dann wären die Konsequenzen für Deutschland katastrophal. Das Anwerfen der Gelddruckmaschinen wird den Außenwert des Dollar schwächen und China wird gezwungen, ihre Währung durch Abwertung zu verteidigen, damit ihr Exportsektor nicht kollabiert. Die USA hoffen, dass ihre Wirtschaft durch ihre Maßnahmen wieder an Fahrt gewinnen wird. Ein Abwertungskrieg verstärkt den Verfall des Yuan und des Dollars, der ohnehin angeschlagene Euro verteuert sich. Es wird also mit großkalibrigen Waffen geschossen. Die Konsequenzen sind absehbar: Waren aus der Euro-Zone werden dann teurer und Deutschland wird dies besonders stark zu spüren bekommen. Die Tatsache, dass das deutsche Wirtschaftsmodell klar auf Exportüberschüsse setzt, und sich somit stark einseitig von der guten Weltkonjunktur abhängig macht, verheißt also nichts Gutes für das hiesige Proletariat[6], wie es schon heute das griechische, irische und spanische Proletariat (um nur einige zu nennen) leidvoll erfahren müssen.

Zweiter Faktor: Die ununterbrochenen Angriffe auf die Arbeit

Ein weiterer wesentlicher Faktor, auf den sich die rasche wirtschaftliche Erholung stützt, ist in den von der rot-grünen Koalition initiierten und von den folgenden Regierungen weiter geführten und vertieften Angriffe auf die Arbeit, zu finden. Durch die Gegenreformen wie die Hartz-Gesetze oder die Agenda2010 hat die deutsche Bourgeoisie die Rahmenbedingungen geschaffen, unter denen die Produktivität der Arbeit erhöht wurde, sei es durch die Einfrierung der löhne, die indirekte bzw. direkte Lohnsenkung, die Erhöhung des Rentenalters etc. Anders ausgedrückt, das deutsche Kapital konnte seit Kriseneinbruch überwiegend wegen „einer hohen internen Arbeitsmarktflexibilität – dank Arbeitszeitkonten und Kurzarbeit“[7] sowie Kürzungen im sozialen Bereich auf dem Markt kompetenzfähiger werden.

Diese arbeiterfeindlichen Maßnahmen ermöglichten erst, dass aus dem kranken Mann Europas, der an Krankheitserregern wie „gesunkener Wettbewerbsfähigkeit“, „ausufernden Staats- und Sozialausgaben“ oder einem „inflexiblem Arbeitsmarkt“ litt, ein kerngesunder, eine „Lokomotive“ wurde, die allerdings nicht als Konjunkturlokomotive fungiert, denn sie hängt alle anderen europäischen Waggons ab, und dabei werden Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone vertieft, wie die gesamtwirtschaftlichen Daten für die 16 Euroländer zeigen: Frankreichs Wirtschaft wuchs lediglich um 0,4 Prozent, Italien zeichnete ein plus von 0,2 Prozent zum Vorquartal. Spaniens Wirtschaft stagnierte im dritten Quartal, Griechenlands Wirtschaft schrumpfte um 1,1 Prozent.

Und trotz der großen Fortschritte des Kapitals gegen die Arbeit in den letzten Jahren, sind die Produktionskosten für die Kapitalisten in Deutschland immer noch zu hoch. Deshalb weist „Arbeitgeber“präsident Dieter Hundt die Forderung von Wirtschaftsminister Brüderle (FDP), Kanzlerin Merkel und DGB-Chef Sommer nach höheren löhnen zurück, mit dem Hinweis, das Tarifergebnis der Stahlindustrie sei nicht auf andere Branchen übertragbar. Laut Hundt könne das Wirtschaftswachstum nur stabilisiert werden, wenn der „erfolgreiche Kurs der moderaten und differenzierten Tarifpolitik“ fortgesetzt werde, also wenn die Verstärkung der Ausbeutungsrate erhöht werde. Deshalb und trotz der Lohnzuwachse in der Industrie sind die Arbeitskosten je geleistete Arbeitsstunde im dritten Quartal 2010 im Vergleich zum Vorquartal gesunken.[8] Anders gesagt, der Niedriglohnsektor wächst, denn dieser Sektor drückt das durchschnittliche Lohnniveau nach unten. Mittlerweile arbeiten laut Gewerkschaftsangaben inzwischen 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland für Niedriglöhne.

Prekäre Beschäftigung als Erfolgsfaktor im verschärften Konkurrenzkampf

Der neu eingesetzte Aufschwung hat zwar zu mehr Beschäftigung geführt, dabei handelt es sich jedoch um einem explosionsartigen Anstieg der prekären Beschäftigung: Heute arbeiten 350.000 mehr Menschen als kurz nach der Krise und sogar mehr als kurz vor Krisenausbruch für Leiharbeitsfirmen. Noch weitere wie im Dienstleistungssektor werden kommen, etwa im Gesundheitswesen. „Rechnet man diese Semi-Arbeitslosen dazu, läge die Zahl immer noch weit über drei Millionen. Nur kurz erwähnt sei an dieser Stelle die klassische Kritik, dass 1,4 Millionen Menschen in Arbeitsmarktmaßnahmen stecken, die deswegen nicht als arbeitslos mitgezählt werden, es aber de facto sind.“[9] Von Teilarbeitslosigkeit, also von Kurzarbeit, waren im Januar 1,1 Millionen Menschen in ca. 60.000 Betrieben betroffen.

In Deutschland haben etwa fünf Millionen Menschen einen sog. 400-Euro-Job. Mehr als 2,2 Millionen Menschen sind auf Mini-Jobs angewiesen um sich etwas dazu zu verdienen. Wer eine Anstellung findet, bekommt es immer öfter mit Zeitarbeitsfirmen zu tun. Zurzeit arbeiten ca. 900.000 Menschen trotz der wirtschaftlichen Erholung nur auf Abruf, also wenn sie gerade gebraucht werden. Kurzarbeiter, Arbeitssuchende, Hartz-IV- Betroffene oder Minijobber tauchen also gar nicht in den Statistiken auf, obwohl sie dazu gezählt werden müssten. Und das ist nur der Anfang. In den nächsten vier Jahren werden die Kosten der mittlerweile zahlreichen Rettungspakete auf die Lohnabhängigen, auch in Deutschland, abgewälzt.[10]

Durch diese, nun bis Ende März 2012 verlängerte staatliche Interventionsmaßnahme der Kurzarbeit, also Teilarbeitslosigkeit, wurde zwar die massive Zerstörung von Produktivkräften (Massenentlassungen) verhindert, sie weist jedoch auf ein grundlegendes Problem hin, denn „wenn ein Mitarbeiter eineinhalb Jahre nicht voll beschäftigt werden kann, ist das kein konjunkturelles sondern ein strukturelles Problem.“[11] Denn je länger die Kurzarbeitsregelung andauert, umso schwieriger wird der „Prozess der Restrukturierung der Wirtschaft zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ (Brüderle) werden. In anderen Worten, solange Kurzarbeit herrscht, solange also die Kapitalisten einen Teil ihrer Lohnsklaven nicht auf die Straße setzen und die Ausbeutungsrate nicht massiv erhöhen, kann die Produktivität der Arbeit nicht effizient gesteigert werden.

Doch die Steigerung der Produktivität der Arbeit ist eine unabdingbare Notwendigkeit für das deutsche Kapital, denn der in Deutschland von den Lohnabhängigen produzierte Mehrwert liegt unter dem weltweiten Durchschnitt. „Etwa seit 1995 (...) während die Stundenproduktivität in den USA und vielen anderen ländern wieder stärker wuchs, verlangsamte sich das Wachstum in Deutschland weiter. Verbunden mit schwachem Beschäftigungswachstum ergab sich ein Stagnationsmuster, das – von konjunkturellen Schwankungen abgesehen – fast ein Jahrzehnt bis 2005 anhielt. Der jüngste Aufschwung verdankte sich überwiegend wieder wachsender Beschäftigung, während das Produktivitätswachstum noch weiter einbrach.“[12] In der Tat stieg „in Frankreich die Produktivität zwischenzeitlich sogar deutlich stärker als in Deutschland“.[13] Das Produktivitätswachstum der Dienstleistungen soll zwischen 2000 und 2005 sogar rückläuï¬ g gewesen sein.

Die faktische Einfrierung der löhne gepaart mit den staatlichen Subventionen für Banken und Großkapitalisten haben dazu geführt, dass Deutschland innerhalb der EU auf Kosten ihrer imperialistischen Nachbarn an preislicher Wettbewerbsfähigkeit zwar gewonnen hat, auf der anderen Seite ihre Produktivität aber im Vergleich zu anderen imperialistischen Mächten stagniert. In der Tat, „sind die deutschen Exporterfolge – im Gegensatz zu den häufig verbreiteten Behauptungen in den Medien – hauptsächlich auf die geringern Lohnzuwächse und nicht auf eine höhere Produktivität zurückzuführen.“[14] So gilt „die traditionelle Verknüpfung von hoher Wertschöpfung auf der Basis hoher Qualifikation und hoher löhne nur noch eingeschränkt.“[15]. Neben der immer gefährlicher werdenden verstärkten Abhängigkeit vom Export, hat dies auch zu tiefen Veränderungen in der Arbeitswelt geführt. So haben die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Deutschland die bereits eingesetzte Dynamik der Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen und Arbeitsstandards beschleunigt. Dabei handelt es sich um einen im Rahmen des Kapitalismus unumkehrbaren Prozess. Es gibt kein „zurück in die Bahnen des alten Modells.“ (Lehndorf, 2009: 73). Diese hat zwar noch kein katastrophales Ausmaß angenommen, hat aber wie oben bereits erwähnt tiefe Spuren in der Arbeitswelt hinterlassen.

Das Exportmodell Deutschlands destabilisiert die Eurozone wirtschaftlich und politisch

Mit ihrer auf Exportüberschüsse konzentrieren Politik füttert Deutschland die nächste Finanzblase, in dem es die riesigen Kapitalabflüsse und Forderungen gegenüber Schuldenländern nicht zur Ankurbelung der deutschen Binnennachfrage einsetzt. Anders gesagt, trägt Deutschland mit seiner Wirtschaftspolitik zur verstärkten Destabilisierung der Eurozone bei, denn heute zwingt Deutschland länder wie Irland und Griechenland die Stattsausgaben radikal zu kürzen, um die Handlungsdefizite auszugleichen.[16]

Die Politik Deutschlands gießt also Öl ins entfachte Feuer. Die sich zuletzt gezeigten verschärfenden Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland (siehe neben anderen Fragen die Wirtschaftspolitik und die europäischen Verteidigungspolitik sowie die Rolle der Europäischen Zentralbank) sind ein guter Beweis dafür. Deshalb drängten Frankreich und andere europäischen Staaten darauf, dass Deutschland die Binnennachfrage ankurbele. „Gibt es hier keine Umkehr, gewinnt ein Land also immer, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Abtragen der Schulden nur noch durch ihre abrupte Entwertung möglich ist.“[17]. Deutschland kann zwar mit einem starken Euro leben, aber die sog. PIIGS-Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien) nicht. Entweder werten diese ab, was im Rahmen der gemeinsamen Währung nicht ohne weiteres geht, oder sie bauen Schulden ab und senken ihre löhne relativ oder absolut. Das ist für die schwächeren Imperialismen und Halbkolonien der Eurozone die von Deutschland verschriebene Medizin. „Damit sind Deflation und Stagnation in Europa vorprogrammiert. Nach der Krise liegt die europäische Inflationsrate unter dem Ziel von zwei Prozent, und weltweit droht Deflation. Eine Nachfrageschwächung in den Defizitländern durch staatliche Restriktion und einseitige Lohnkürzung kann daher nur zu einer noch stärkeren Zielverletzung führen.“.[18] Schlimmer noch, sollten länder wie Griechenland, Irland und Spanien ihre Kredite nicht mehr zahlen können, dann wird der deutsche Staat, der Anleihen an diese länder gekauft und damit viele Milliarden Euro in die Krisenländer verliehen hat, besonders stark darunter leiden.

Mit ihrer jetzigen Politik rettet sich „Die Merkel-Regierung (...) vielleicht noch über die Runden. Aber irgendwann kommt es zum großen Schuldenknall. Noch haben uns die Bailouts keinen Cent gekostet. Wenn die Strategie des Verdrängens irgendwann scheitert, muss Deutschland Sozialleistungen kürzen, um den Euro zu erhalten - ein politischer Super-GAU.“[19]

Das Streben nach Handelsüberschüssen stellt einen entscheidenden Faktor zur Entstehung neuer Krisen dar, da hohe Handelsüberschüsse die Weltwirtschaft destabilisieren. Ìberschussländer, in der Eurozone allen voran Deutschland, haben mit ihrer Handelsüberschusspolitik die nun platzende Schuldenexplosion überhaupt erst finanziert. Sie förderten einen unhaltbaren Konsum- und Immobilienboom bei den „Defizit-ländern“, also den Aufbau von Schuldenpositionen der „Defizit-länder“, die sie nun wieder abbauen müssen: Europaweite Sparpakete und radikale Angriffe auf historische Errungenschaften der Lohnabhängigen und somit politische Instabilität sind die Folge, denn „Wer weiß schon, ob sie [die europäischen Regierungen] ungeliebte Sparkurse und Reformen durchsetzen können oder nicht aus ihrer Schwäche heraus zu populistischen, vielleicht marktfeindlichen Mitteln greifen? Was passiert in den Staaten, die sich schwer tun, überhaupt eine Regierung zu bilden?“[20]).

Die Periode der politischen und wirtschaftlichen Instabilität hat gerade erst begonnen. Die Zeiten von weitreichenden Zugeständnissen, von Sozialpartnerschaftslogik und Interessenversöhnung sind angesichts der sich verschlimmernden Krise Vergangenheit. Soziale Spannungen und Klassenkämpfe in gesteigerter Form sind somit nur noch eine Frage der Zeit, wohlgemerkt einer kurzen Zeit, wie die Ereignisse in Griechenland und Frankreich erahnen lassen (um nur zwei von den fortschrittlichsten Ereignissen der letzten Zeit zu nennen).

Perspektiven und Aufgaben

Die historische Krise des Kapitalismus eröffnet eine Periode weltweiter Spannungen auf ökonomischer und zwischenstaatlicher Ebene und auch bezüglich des Klassenkampfes. Das deutsche Exportmodell gepaart mit niedrigen löhnen, einem schwachen Binnenmarkt und hoher Staatsverschuldung ist eine tickende Zeitbombe. Das deutsche Kapital ist gezwungen, ein neues Akkumulationsmodell zu finden. Dies geht zwangsläufig mit der endgültigen Abschaffung des sogenannten „Sozialstaates“, sowie der Verstärkung der Ausbeutungsrate und der Eroberung neuer Märkte einher. Das jetzige Modell des Exportüberschusses zusammen mit der schwachen inländischen Nachfrage, wird dazu führen, „dass die deutschen Marktanteile schlagartig verloren gehen, weil der Euroraum nicht zu halten ist und neue Währungen gegenüber der deutschen massiv abgewertet werden oder Protektionismus um sich greift. Danach sieht es angesichts der deutschen Halsstarrigkeit in Sachen Lohnwende leider aus. Nach der Krise ist daher vor der Krise.“[21]

Welche Auswirkungen die Krise auf das Lebensniveau der großen Massen haben wird, kann jetzt schon im europäischen Ausland beobachtet werden: Die wachsende Verelendung immer breiteren Schichten der Arbeiterklasse, Verarmung, und der später mögliche Ruin der Kleinbourgeoisie und der Mittelklassen, Proletarisierung und allgemeine Verelendung auf der einen, verstärkte Kapitalkonzentration auf der anderen Seite. Dieser Prozess wird naturgemäß weder friedlich noch widerspruchsfrei ablaufen, wie die Angriffe der Bourgeoisien Europas auf die Lohnabhängigen und die ersten Antworten der Lohnabhängigen auf diese Angriffe verdeutlichen.

In Deutschland ist jetzt schon eine verstärkte Polarisierung zwischen den Klassen zu beobachten. Noch drückt sie sich überwiegend in Form von demokratischen Kämpfen (Siehe Artikel in diesem Heft „Gorleben und Stuttgart21: Vorboten gesteigerter Klassenkampfauseinandersetzungen in Deutschland“), sowie in Form von politischen Krisen aus. Dies kann die Bedingungen begünstigen können, „damit sich vorrevolutionäre Situationen auftun, nicht nur in den ländern der Peripherie (...) sondern auch in den zentralen ländern, was seit Ende der 60er und 70er Jahren nicht mehr zu beobachten war. Dieses revolutionäre (gleichzeitig bonapartistische und konterrevolutionäre) Potential stellt eine Probe und eine Herausforderung für jene dar, die sich auf den revolutionären Marxismus berufen.“[22]

Deshalb müssen jetzt die Weichen gestellt werden, um den sich anbahnenden neuen ökonomischen und politischen Phänomenen eine revolutionäre Perspektive zu geben. Dies kann nur geschehen, wenn wir heute anfangen, eine Antwort zur Verteidigung gegen die Angriffe auf die Arbeit zu geben sowie die Weichen für den Aufbau von revolutionären, trotzkistischen, Organisationen voranzutreiben, die für ein klar revolutionäres Programm eintritt.

Deshalb ist es notwendig, die noch verbleibenden Errungenschaften mit einem Programm von Ìbergangslosungen zu verteidigen, die eine Brücke zwischen den unmittelbaren und den historischen Aufgaben des Proletariats (die Errichtung der Diktatur des Proletariats) schlagen. Heute besteht eine der zentralen Aufgaben der Arbeiterbewegung darin, den sich immer weiter vertiefenden sozialen Abbau zu verhindern, die noch verbliebenen ökonomischen und politischen Errungenschaften zu verteidigen, um neue Positionen überhaupt erobern zu können.

Die wirtschaftliche Erholung in Deutschland muss also von den Lohnabhängigen dazu genutzt werden, die Angriffe der herrschenden Klasse abzuwehren. Eine zentrale Losung muss heute lauten, das Verlorene wieder zu erobern. So reicht es nicht, Leiharbeitern gleiche löhne wie den unbefristet Beschäftigten zu garantieren, die Lohnabhängigen müssen für die Abschaffung der Leiharbeit kämpfen.

In diesem Sinne und anders als die Gewerkschaftsbürokratie fordern wir:

SOFORTIGE ÌBERNAHME ALLER „LEIHARBEITERiNNEN“ IN DIE STAMMBELEGSCHAFT

Als die Krise begann haben die Unternehmen die Belegschaften in die Arbeitslosigkeit geschickt, womit sie ihre Gewinne sichern konnten. Nun ist der Aufschwung da, und wir werden eingestellt, aber als Leiharbeiter. „Die Leiharbeit vermehrt sich rasant und verdrängt mehr und mehr Stammbeschäftigung“ und die ArbeiterInnen und ihre Familien können immer weniger mit ihrem Lohn zu Recht kommen während die Kapitalisten sich über saftige Gewinne erfreuen. Deshalb fordern wir:

ÖFFNUNG DER GESCHÄFTSBÌCHER UND ABSCHAFFUNG VON GESCHÄFTSGEHEIMNISSEN

Während der bürgerliche Staat dem inzwischen verstaatlichten Immobilienfinanzierer Hypo Real State weitere Bürgschaften gibt, haben Bankmanager noch vor Kurzem Boni in Höhe von 25 Millionen Euro erhalten. Vor einiger Zeit hat der deutsche Staat zusätzliche Staatsgarantien von noch einmal 40 Milliarden Euro für dieses Fass ohne Boden bewilligt. Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien schuldeten dem Institut Ende Juni 2010 einen Gesamtbetrag von 39,6 Mrd. Euro. Sollten diese länder in Zahlungsschwierigkeiten geraten, werden wieder einmal die Lohnabhängigen in diesen ländern aber auch in Deutschland zur Kasse gebeten. „Die demokratischen Regierungen stoßen bei ihren feigen Versuchen der „Regulierung“ auf die unüberwindliche Sabotage des Großkapitals [...] Die Rechnungslegung zwischen dem einzelnen Kapitalisten und der Gesellschaft bleibt das Geheimnis des Kapitalisten: die Gesellschaft geht das nichts an“.(...) „Das Geschäftsgeheimnis, mit den Erfordernissen der „Konkurrenz“ gerechtfertigt, dient letztendlich dazu, die Plünderungen und den Betrug verbergen zu können. Deshalb ist die Aufhebung des ”šGeschäftsgeheimnisses’ der erste Schritt zu einer wirklichen Kontrolle über die Industrie.“ [23]

NETTO MINDESTLOHN VON 15€ PRO STUNDE

Selbst im Aufschwung sind die Kapitalisten nicht bereit höhere löhne zu bezahlen, denn generelle „überzogene Lohnforderungen“ (Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände) wie die der Metallarbeiter würden die wirtschaftliche Erholung zunichte machten. Die Inflation frisst die mageren, von der Gewerkschaftsbürokratie ausgehandelten, Lohnerhöhungen auf. Dies ist eine unerträgliche Situation. Die Kapitalisten sagen uns den Kampf an. Wir fordern deshalb:

GLEITENDE SKALA DER là–HNE UND VERTEILUNG DER ARBEITSZEIT UNTER ALLEN ZUR VERFÌGUNG STEHENDEN KRÄFTEN AUF KOSTEN DER REICHEN UND KAPITALISTEN

Angesichts der Arbeitslosigkeit und der hohen Lebenskosten ist es notwendig, einen kämpferischen Plan zu entwickeln, der das Recht auf Arbeit und ein menschenwürdiges Dasein für alle fordert. Den Lohnabhängigen in Deutschland steht immer weniger Geld zum Ausgeben oder Sparen zur Verfügung. Die Kaufkraft der großen Massen sinkt, die Inflation steigt. Die Sektoren der Bevölkerung, die am stärksten durch die Kürzungspläne Agenda 2010 und Hartz IV betroffen sind, überleben nur schwerlich. Immer mehr Lohnabhängige sind auf staatliche Almosen angewiesen, da es ihnen ihre löhne nicht ermöglichen, bis zum Monatsende zu überleben. Angesichts dieser Situation ist ein Notfall-Lohn zur Linderung erforderlich. Darüber hinaus ist es notwendig, die Forderung nach einem Gehalt, das sich automatisch an die Erhöhung der Lebenshaltungskosten anpasst, zu erheben: „Die Tarifverträge müssen die automatische Erhöhung der löhne gleichlaufend mit den Preissteigerungen der Verbrauchsgüter garantieren. Will es sich nicht selbst dem Untergang ausliefern, dann darf das Proletariat nicht dulden, daß ein wachsender Teil der Arbeiterschaft zu chronisch Arbeitslosen, zu Elenden gemacht wird“ [24]. In Deutschland zwingen die Hartz-Gesetze (I-IV) einen Großteil des Proletariats dazu, „von den Krümeln einer sich zersetzenden Gesellschaft [zu] leben. Das Recht auf Arbeit ist das einzig ernsthafte Recht, das der Arbeiter in einer auf Ausbeutung begründeten Gesellschaft besitzt. Ihm wird jedoch in jedem Augenblick dieses Recht genommen. Gegen die Arbeitslosigkeit - sowohl die strukturelle wie die konjunkturelle - ist es an der Zeit, neben der Parole der öffentlichen Arbeiten die Losung der Gleitenden Skala der Arbeitszeit auszugeben.“[25]

DIE KAPITALISTEN SOLLEN FÌR DIE KRISE ZAHLEN!

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Fußnoten

[1] „China-Handel treibt Aufschwung an“, Manager Magazin, 14.09.2010
[2] Siehe Artikel “El capitalismo mundial en una crisis histórica”, Juan Chingo, Estrategia Internacional Nr. 25.
[3] „Zwar fließen noch immer zwei Drittel der gesamten deutschen Warenausfuhr von über 800 Milliarden Euro in die übrigen EU-länder. Doch kein anderes Segment des deutschen Außenhandels wächst derzeit schneller als der China-Export.“. „Geliebter Feind“, Spiegel Online, 23.08.10.
[4] „Geliebter Feind“, Spiegel Online, 23.08.10.
[5] „Was, wenn die Chinesen weniger Autos kaufen?“ FTD, 10. Dezember 2010.
[6] Ìber die Gründe dieses Modells, siehe der Artikel von Juan Chingo „Europa: Neues Epizentrum der Weltkrise“, Internationaler Klassenkampf Nr. 5.
[7] „Einseitige Exportorientierung belastet Wachstum – Frankreich besser als Deutschland“, Horn; Joebges; Zwiener, Policy Brief 2010: S.4)
[8] Mitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis)
[9] „Der letzte Erfolg am Arbeitsmarkt“, FTD, 30.10.2010
[10] Zwischen 2011 und 2014 sollen 81,6 Mrd. Euro gespart werden. Dies verteilt sich folgendermaßen über die Jahre:
Einsparvolumen 2011–2014
2011: 11,2 Mrd. Euro
2012: 19,1 Mrd. Euro
2013: 23,7 Mrd. Euro
2014: 27,6 Mrd. Euro.
(Quelle: Pressemitteilung der Bundesregierung vom 7.6.2010)
[11] „Trittbrettfahrer haben leichtes Spiel“, tagesschau.de, 02.01.10
[12] Wohlstand durch Produktivität - Deutschland im internationalen Vergleich. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Friedrich Ebert Stiftung, 2009: S. 4
[13] „Einseitige Exportorientierung belastet Wachstum – Frankreich besser als Deutschland“, Horn; Joebges; Zwiener, Policy Brief 2010: S.5)
[14] Ebda. S.6
[15] „Vor der Krise und in die Krise – Das deutsche Beschäftigungsmodell“, Lehndorff; Bosch; Heipeter; Latniak. VSA, 2009: S. 33.
[16] „In Griechenland ist jetzt abzusehen, dass man die Schulden selbst bei einem rasanten Abbau der Staatsausgaben nicht in den Griff bekommt. Das passiert auch in Irland. Das Problem in diesen ländern ist, dass die Kombination aus extremem Sparen und realer Abwertung durch Lohn- und Preissenkung zu einer Schuldendeflation führt, was bedeutet, dass der reale Schuldenwert steigt. Es war eine der wichtigsten Lektionen der Großen Depression, dass Schuldendeflation eine giftige Dynamik annimmt, die schnell unkontrollierbar wird.“ in „Gründet die Anti-Euro-Partei!“ FTD, 09.12.2010.
[17] „Vom Wirtschaftswunder für die Zukunft lernen“, Zeit Online, 22.07.2010
[18] Ebda.
[19] „Gründet die Anti-Euro-Partei!“ FTD, 09.12.2010.
[20] „Das politische Risiko der Märkte“, FTD, 20.08.2010.
[21] Ebda.
[23] Trotzki, L.: Das Ìbergangsprogramm.
[24] Ebda.
[25] Ebda.

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