FT-CI

Lateinamerika

Bolivien: Wie weiter nach dem Referendum?

15/08/2008

Die Massenerhebungen der Jahre 2003 und 2005 haben in Bolivien zwei Regierungen zum Rücktritt gezwungen: Präsident Sanchez de Losada setzte sich in die USA ab, sein Nachfolger Carlos Mesa musste nach nur anderthalb Jahren im Amt und den Auseinandersetzungen um die heftig umstrittenen Frage, wem eigentlich die Erlöse aus den beträchtlichen Gasvorkommen des Landes zugute kommen sollten, ebenfalls den Hut nehmen. Gefragt waren nun neue (wenigstens dem Anschein nach “linkere”) Wege der Regulierung. Aber auch unter der Präsidentschaft von Evo Morales, die den Versuch eines bürgerlich-nationalen Integrationsprojekts mit einigen Zugeständnissen an die indigene und unter drückender Armut leidende Bevölkerung darstellt, konnte die politische Krise nicht gelöst werden.

Zur jüngsten Episode der Auseinandersetzungen rund um das Referendum über Morales Verbleib im Amt legen wir hiermit eine Einschätzung der LOR-CI vor (der Liga Obrera Revolucionaria por la Cuarta Internacional, d. i. der bolivianischen Sektion der Fraccion Trotskista - Cuarta Internacional).

Evos Triumph und die Ratifizierung der Autonomisten

Am 10. August feierten die Regierung und die Presse Boliviens das “Fest der Demokratie”, bei dem selbst die widerspenstigsten Oppositionellen einstimmten. Am Vorabend hatte ein Gremium, bestehend aus Regierung, CNE 1 und den Abgesandten aus den pro-autonomistischen Departementen das Gesetz so ausgelegt, dass für eine Ratifizierung der Präfekten das Kriterium: 50 % + eine Stimme erfüllt sein muss und damit den Weg zu den Urnen geebnet. Die OEA (Organizacion de Estados Americanos; Organisation amerikanischer Staaten) hatte 120 BeobachterInnen abgestellt, um den Vorgang zu überwachen, während die UNO und die dem MERCOSUR angehörigen Regierungen erneut ihre “Besorgnis um die Demokratie” zum Ausdruck brachten. Wir legen eine erste Analyse vor, wobei die Neuausrichtung der politischen Landschaft Boliviens noch im Gange ist. Jedenfalls ein wichtiger Triumph für die MAS im Rahmen der Polarisierung.

Evo wurde als Präsident auf nationaler Ebene mit 67 % der Stimmen bestätigt (2005 hatte er 53,7 % erreicht), mit deutlichen Zugewinnen im Altiplano und den ländlichen Gegenden und einer breiter gewordenen Wählerbasis im Osten (er gewann in Pando und erreichte in Santa Cruz und Tarija 40 %), während die Wahl in Chuquisaca unentschieden ausging. Die große Unterstützung im Departement La Paz und El Alto trugen viel dazu bei, der Regierung den Rücken zu stärken und ihr damit nach der ersten Hälfte des Jahres und angesichts verschiedener politischer Fehltritte in den autonomistischen Departementsämtern Luft zu verschaffen.

Das Resultat und die breite Wahlbeteiligung (83 % der Wahlberechtigten) spiegelt wider, dass in breiten Volkschichten, auf dem Land und in den indigenen Dörfern, aber auch unter Arbeitern und verarmten Mittelschichten, hohe Erwartungen in Evo bestehen, in dem sie wegen seiner gewerkschaftlichen und indigenen Herkunft “ihren” Präsidenten sehen. Das geht einher mit erneuerten Illusionen in soziale Reformen und die demokratischen und nationalistischen Verheißungen und kanalisiert andererseits die Abneigungen gegen die offen bürgerliche, landbesitzende und proimperialistische Rechte.

Die Niederlage von “Papelucho” Paredes in La Paz und Reyes Villa in Cochabamba begünstigt die MAS und ihre Verbündeten, die darauf setzen können, bei den nächsten Wahlen die Kontrolle über zwei Schlüsselpräfekturen zu erreichen. Möglicherweise erweist sich die parlamentarische Rechte (PODEMOS, UN, MNR) als große Verliererin, die zersplittert bleibt, während die konsolidierten Autonomisten im Osten die Rolle der “wahren Opposition” übernehmen.

Aber zur gleichen Zeit holten sich die oppositionellen Präfekten der “ media luna” 2 - Ruben Costas [Gouverneur von Santa Cruz, AdÌ], Mario Cossio [Gouverneur von Tarija, AdÌ], Fernandez [Gouverneur von Pando, AdÌ] und Suarez [Gouverneur von Beni, AdÌ] - eingehüllt in die autonomistische Fahne die plebiszitäre Legitimation (auch wenn die Resultate aus den Departements zeigen , dass ihre Kontrolle nicht ganz so komfortabel ist wie sie selbst vorgeben), während an den städtischen Urnen der konservative Geist des Kleinbürgertums zum Ausdruck kam.

In verzerrter Weise reflektiert die Arithmetik der Wahlen die enorme soziale und politische Polarisierung entlang territorialer Linien, die den Prozess in Bolivien charakterisiert. Der Triumph der MAS reicht nicht aus um für ihre Reformen den Weg zu ebnen, während gleichzeitig die Siege der Autonomisten die Grenzen der Rechten auf nationaler Ebene aufzeigen.

Neuerlicher Aufruf zum Dialog

In der Hitze des Gefechts, erneuerte Evo sein Angebot zum Dialog und seine Konzessionen an die Autonomisten: “Wir sind überzeugt, dass es wichtig ist, das bolivianische Volk zu vereinigen und seine Partizipation mit seiner Stimme ist geeignet, die verschiedenen Sektoren auf dem Land und in der Stadt, im Osten und im Westen zusammen zu führen. Und diese Einheit wird durch einen Zusammenschluss der neuen politischen Verfassung des Staates Bolivien mit den autonomistischen Statuten ausgedrückt.”, bekräftigte Morales. (Agencia Boliviana de Information, abgekürzt ABI, vom 11. August)

Die oppositionellen Präfekten, die sich in der CONALDE 3 zusammengefunden haben riefen ihrerseits zur “geistigen Abrüstung” auf (Cossio), dazu “alle Kräfte in den Dienst einer neuen Ìbereinkunft” zu stellen (Fernandez) und “im Dialog den Konsens zu suchen” (Suarez). (La Razon vom 11. August)

Ruben Costas hatte im Fernsehen die Notwendigkeit einer “großen nationalen Ìbereinkunft” wiederholt, und im angesichts der in eine reaktionäre Richtung tendierenden Ergebnisse behauptet, dass die “Autonomie der Tat” voranschreite mit Wahlen von Versammlungsteilnehmern und “Subgouverneuren”. Er forderte bei Gelegenheit die Schaffung einer departemental organisierten Polizei und jeweils eigenständiger Steuerämter. Dies scheint mehr ein Versuch zu sein, aus einer Position der Stärke verhandeln zu können, es schafft außerdem beste Bedingungen für die lokale extreme Rechte, die bereits angefangen hat nach “Unabhängigkeit” zu schreien. Tatsächlich deklarierte Gabriel Dabdoub, einflussreicher Unternehmer aus Santa Cruz und Kopf der CEPB (der “bolivianischen Unternehmerzentrale”), dass “das Volk Frieden will und dafür müssen die Streitigkeiten beigelegt werden und die Bereitschaft zum Dialog und zum Erreichen einer Ìbereinkunft muss gegeben sein, um mit einem geeigneten Mechanismus den gemeinsamen Nenner zu finden, denn ohne Zweifel überwiegen die Ìbereinstimmungen die Divergenzen (...); sie müssen nur im Dialog gesucht und durch den Dialog gerettet werden.” (ABI vom 11. August)

Und in diesem Chorus machen sich Stimmen vernehmlich von der Kirche bis zum starken internationalen Druck der UNO, der OEA, Lula, Cristina Fernandez [Kirchner, AdÌ], etc., welche die Aufnahme von Verhandlungen einfordern und damit wiederum den übereifrigsten Autonomisten Grenzen setzen.

Möglicherweise werden sich in den nächsten Tagen und Wochen im Gerangel die Kanäle eines neuen Verhandlungsprozesses herauskristallisieren, um die verschiedenen durch den Urnengang legitimierten Positionen auszubalancieren. Dabei werden die “Kompatibilisierung” der neuen Verfassung mit den autonomistischen Statuten und die Forderung aus den Departementen nach einer direkten Besteuerung der Kohlenwasserstoffe [und damit des Erdgases, AdÌ] die Hauptachsen der Auseinandersetzung sein.

Ein Horizont voll dunkler Gewitterwolken

Zweifellos hat das Abwahlreferendum die politische Krise nicht gelöst, dafür aber die Polarisierung bestätigt. Es eröffnet sich ein Zeitfenster für Verhandlungsanstrengungen und bestärkt den Gang an die Urnen als Weg der Krisenregulierung (schon zeichnen sich neue departementale und Gemeindewahlen ab, ebenso wie ein mögliches Referendum über die neue Verfassung), aber es ist schwierig, eine “große nationale Ìbereinkunft” zu erzielen, die es erlauben würde ein von allen anerkanntes neues politisches Regime zu installieren, eine reaktionäre Ìbereinkunft, die sich nur auf Kosten der elementarsten Bedürfnisse der Bevölkerung realisieren ließe.

Die herrschende Klasse, trotz allem Anschein des Unwillens, braucht die MAS als einzig [mögliche] Kraft der Eindämmung einer explosiven Massenbewegung und ihre hauptsächliche Strategie wird bis 2010 voraussichtlich weiterhin das Abtragen und Blockieren der Regierungsinitiativen sein, wie etwa der neuen Verfassung.

Zur gleichen Zeit werden die reaktionären Winde, die auch in der südamerikanischen Konjunktur wehen, in Bolivien spürbar, was die Rechte anstachelt, die MAS stärker unter Druck zu setzen, gewichtige Zugeständnisse zu machen, und ihr damit jede Möglichkeit zu nehmen, sich als viel versprechende Massenbewegung anpreisen zu können. Mitten in tiefen Widersprüchen, die eine schon chronisch gewordene politische Krise speisen, kann die MAS nicht ausschließen, dass neue Faktoren - eine schwere Wirtschaftskrise, politische “Kurzschlüsse”, autonomistische Provokationen oder ein Massenaufruhr - die Möglichkeit einer putschistischen Verschwörung wieder auf die Tagesordnung setzen, um “die Ordnung wiederherzustellen”, oder Schritte in Richtung einer Sezession oder eines Bürgerkriegs gesetzt werden, kurz: dass es zu offeneren Konfrontationen zwischen Konterrevolution und Revolution kommen könnte.

Die Avantgarde der Arbeiter und des Volkes muss die Grenzen überwinden, die ihr die MAS setzt, und sich ein Programm geben, welches auf der Höhe der Aufgaben und Bedrohungen der gegenwärtigen Phase ist.

La Paz, 12. August 2008

— -

Anmerkungen

1) Der “Corte Nacional Electoral” Boliviens setzt sich zusammen aus fünf Ausschussmitgliedern, von denen mindestens zwei von Beruf Rechtsanwälte sein müssen, sowie den jeweils fünf Räten aus den neun Departements Boliviens (abgesehen von den Departements La Paz und Santa Cruz, die zehn Ausschussmitglieder stellen können und dem Departement Cochabamba, das deren sieben stellt).

2) Media Luna: “Halbmond”, nach der argentinischen Tageszeitung Clarín so genannt, weil sich das Territorium, welches die Departemente Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando umfasst, vom Norden bis zum Süden erstreckt und sich in Richtung Osten auswölbt. Aus dem “Halbmond” stammen nach der selben Zeitung 44 % des bolivianischen BIP. Zwar machen sie zusammengenommen auch über 62 % der Fläche Boliviens aus, sind aber teilweise massiv weniger dicht bevölkert als der Altiplano im Westen des Landes und leisten so insgesamt einen überproportionalen Beitrag.

3) CONALDE: Consejo Nacional Democratico (national-demokratischer Rat).
Ìbersetzung: Elena Marquez und Michael Bernhard (RSO Zürich)

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